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tanznetz.de, 16. September 2008

Irrgarten von Liebe und Tod
Joachim Schloemer inszeniert „Die Entführung aus dem Serail“

Der Choreograf und Tänzer Joachim Schloemer liebt die Oper, hat in dieser Sparte schon häufig Regie geführt. Seine jüngste Inszenierung von Mozarts "Die Entführung aus dem Serail" bringt fünf Sängerinnen und Sänger und ebenso viele Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne. Dazu spielt wunderbar vielschichtig das Freiburger Barockorchester unter Attilio Cremonesi. Die vom Publikum zuerst mit Skepsis verfolgte, am Schluss aber begeistert applaudierte Aufführung hatte am KKL Luzern im Rahmen des Lucerne Festivals Premiere, das sich dieses Jahr auch dem Tanz geöffnet hat. [...]

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Schloemer, Melancholiker und Grübler seit je, verschiebt die Akzente in der Oper des 26-jährigen Mozart. Die Geschichte von Belmonte, der seine von Piraten entführte Geliebte Konstanze samt ihrem Dienerpaar Blonde/Pedrillo im türkischen Serail von Bassa Salim aufspürt und am glücklichen Ende nach Europa zurückführen darf - diese vorwiegend heitere Singspiel-Geschichte vertieft und belastet der Regisseur mit weiteren Aspekten des Begriffs "Entführung". Wie verändern sich Menschen, die eine Entführung erlebt haben? Wie wirken sich die Machtverhältnisse zwischen Tätern und Opfern aus? Ist ein Happy End nach einer Entführung überhaupt möglich? Was, wenn sie im Tod endet? [...]

Und da soll man noch Gefallen finden an Mozarts derart beschwerter Oper? An diesem zum Nachtstück mutierten Singspiel? Man findet ihn, den Gefallen! Die Sängerinnen und Sänger sind erstklassig und haben sich mit ihren tanzenden - nein, nicht Schatten, sondern plastischen Verkörperungen und Alter Egos verschworen. Die Doppelbesetzungen überzeugen durchweg: Konstanze (Robin Johannsen, Sopran, mit Alice Gartenschläger), Belmonte (Johannes Chum, Tenor, mit Graham Smith), Blonde (Lini Gong, Sopran, mit Murielle Elikzéon), Pedrillo (Eberhard Francesco Lorenz, Tenor, mit Clint Lutes) sowie Osmin samt haarigem Pferdeschwanz (Raphael Sigling, Bass, mit Tommy Noonan). Sehr schillernd wirkt die Sprechrolle des Bassa Salim, gespielt von einer Frau in Halbmaske (Marianne Hamre). Mit junger Hexenstimme zitiert sie nicht nur die Texte von Bassa Salim, sondern auch die Dialoge der andern Mitwirkenden.

Das Freiburger Barockorchester improvisiert während dieser Sprechpartien zusammen mit dem Perkussionisten Murat Coskum. Es vollbringt das Wunder, Mozarts Musik nicht nur an der heiteren Oberfläche gerecht zu werden, sondern auch in der Tiefe auszuloten. Zahllose optische Reize bietet das Bühnenbild von Jens Kilian: Manchmal öffnen sich die Garderobekästen, dann sieht man darin wie in einem Aquarium vier fast nackte Tanzende herumschwimmen. Und wenn diese wieder auf "Festland" sind, werden ihre verschlungenen Gänge auf der Bühne von einem grossen Spiegel wieder gegeben. Dann kann man ihre Stürze auf den Boden, ihr Herumirren, Rutschen, Springen und sich Ineinander-Verschlingen gleich doppelt sehen. Ein Panoptikum.

Marlies Strech