Foto

Die Presse, 22. September 2008

Luzern: Mozart, aus dem Serail befreit
Trauma, Tränen und Stockholm-Syndrom: Mit einer kühnen "Entführung" in Luzern gibt Joachim Schloemer einen Vorgeschmack auf seine Intendanz in St. Pölten.

Er vergewaltigt Seelen, macht hilflos, willenlos, abhängig: Wie ein Entführer sein Opfer traumatisiert, haben uns Reemtsma, Kampusch und Betancourt eindringlich geschildert. Wissenschaftler erforschten das Stockholm-Syndrom, die seltsame Solidarisierung der Geisel mit ihrem Peiniger. Darüber weiß nur der nicht Bescheid, der es nicht wissen will.

Und doch hören wir immer noch verzückt Mozarts Lust- und Singspiel "Die Entführung aus dem Serail". Im Mohrenland gefangen war, ein Mädel hübsch und fein. Wollt gern erlöset sein. Schon stand der tapfre Ritter da. Fort war sie, Hopsasa! Und am Ende lässt Bassa Selim alle Gefangenen großmütig frei. Wer so viel Huld vergessen kann, den seh' man mit Verachtung an.

Unser Wissen im Kopf, Mozart im Ohr, ergibt das Brüche, bleibt auch nach vielen artigen Reimen ungereimt, verlogen, zynisch. Joachim Schloemer ist einer, der sich damit nicht abfindet. Als Regisseur, Choreograf und Texter biegt er nichts behutsam zurecht. Er geht aufs Ganze, will Mozart aus den Fängen seines Librettos befreien. Den ersten Anlauf nahm er beim Lucerne Festival. Der zweite erfolgt am 3.Oktober im Festspielhaus St.Pölten, als Vorgeschmack auf seine künstlerische Leitung 2009.

Bei Schloemer werden nicht nur Konstanze und ihre Zofe Blonde zu Entführunsgsopfern, sondern ihre Befreier Belmont und Perillo sowie Aufseher Osmin gleich dazu. Ihnen zur Seite steht je ein Tänzer. Er verwandelt in Bewegung, was die Tiefenschichten in Mozarts Musik andeuten: die Angst in den Mut-Appellen, die Zweifel in den Treueschwüren, die Lebensgier in der Todessehnsucht. Sich an Stricken vorführend, zeigen singender Geist und tanzender Körper, wie bedroht ihr gemeinsames Ich bleibt.

Die Puppen tanzen und singen lässt Entführer Bassa Selim, schon bei Mozart eine Sprechrolle. Hier übernimmt er, höhnisch verzerrt, alle Textpartien seiner Opfer, die er einem bösen Experiment unterzieht. In den gläsernen Wassertanks seines Labors vegetieren sie "Martern aller Arten" entgegen. Bassa ist eine Frau (Marianne Hamre), bleibt hinter einer Maske und außerhalb des Beziehungsgeflechts. Das Sexuelle ist ausgespart. Der reale Experimentator mutiert zum Symbol der Gewalt, die jeder anwendet, der Andere manipuliert und eigenen Zwecken dienstbar macht.

Auch Mozarts ureigenster Part, die Musik, wird dekonstruiert. Arien stellt Schloemer um, das Orchester ergänzt um improvisierte Intermezzi. Der Perkussionist Murat Coskun treibt mit bedrohlichen Intros die naive Fröhlichkeit aus einer Partitur, die mit wenigen Eingriffen ihre Unschuld verliert. An Stelle der linearen Handlung treten Aspekte des Entführungsleids, austauschbar, zeitlos, ohne Hoffnung auf einen Ausweg.

Während sich die Opfer zwischen Aktenschränken im Spiegelkabinett der Überwachung verirren, verirrt sich auch der Zuschauer beim Versuch, dem Geschehen zu folgen. Da bleibt keine Szene ohne Umdeutung, ohne Parallelhandlung [...]

Die stärksten Momente kommen am Ende, wenn Bassa Selim seine Probanden in eine trügerische Freiheit entlässt. Ihrer Kostüme und Alter Egos entledigt, stehen die Sänger in Alltagskleidern vor dem Vorhang. Doch ihre verwirrten Gesichter strafen den Jubelchor Lügen, sie drängen sich ängstlich aneinander. Das Trauma lässt sie nicht mehr los, vermutlich ihr ganzes Leben lang.

Hier gewinnt Schloemers Regie-Experiment die Qualität einer gültigen Deutung. So ganz ist ihm die Entführung Mozarts aus der Naivität nicht geglückt. Nicht, weil er keine Ideen hätte - er hat zu viele. Ein gutes Omen für seine Tätigkeit als Intendant [...]

Karl Gaulhofer