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Neue Zürcher Zeitung, 19. September 2008

Im Labor des Terrors
Joachim Schloemer liest Mozarts «Entführung aus dem Serail» neu

Joachim Schloemer, Artiste étoile des diesjährigen Lucerne Festival, hat für seine letzte Luzerner Premiere auf der Bühne des Luzerner Saals im KKL Luzern ein Laboratorium aufgebaut. Das Prinzip «Entführung» wird untersucht - keine unvertraute Thematik für den Choreografen und Regisseur, der gerne Grenzsituationen erkundet. Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» hat er gleichsam in das Labor gesetzt und psychischen Experimenten ausgesetzt. Bassa Selim leitet die Forschung, er ist ein Fiesling, der die Figuren wie Marionetten führt, sie unterschiedlichen Entführungssituationen aussetzt und terrorisiert. Er (beziehungsweise sie, giftig wird der Bassa von der Schauspielerin Marianne Hamre gespielt) treibt die Situationen voran, übernimmt alle gesprochenen, teilweise neu verfassten Dialoge. Mozarts «Entführung» wird inhaltlich völlig neu gelesen, teilweise neu geordnet oder gar in ihr Gegenteil verkehrt.

Schon das Bühnenbild von Jens Kilian ist beklemmend - und ziemlich verrückt aufgebaut: Ein Dutzend Schränke oder Zellen sind mit Zwischengängen als Rechteck (4:3) aufgebaut, ein grosser, schräg hängender Spiegel gibt dem Publikum die Möglichkeit, zu sehen, was auf und hinter den Kästen passiert, ein weiterer Spiegel ermöglicht die Kontrolle von Publikum und Dirigent: Überwachung total. Die fünf handelnden Figuren - Konstanze, Blonde, Belmonte, Pedrillo und Osmin - sind alle mit identischer Kostümierung (Dagmar Morell) und Coiffure verdoppelt. Die Zwillingspaare Sänger/Tänzer oder Sängerin/Tänzerin stehen für den Dualismus von Ich und Körper, wie ihn Entführungsopfer erleben, eine Aufteilung in ein emotional singendes Ich (und wie grandios hat ja Mozart das innere Erleben der Personen komponiert) und in einen gleichsam davon losgelösten Körper. Beengende Bilder entstehen, die Körperlichkeit des Geschehens geht an Grenzen mit einer absolut gegenwärtigen, phantasievollen, heftig expressiven Tanzsprache. Klaustrophob die beiden Szenen, wo eine Tänzerin, drei Tänzer, in Wassertanks an Luftschläuchen hängend, eingesperrt sind. Wir entdecken wieder Bilder, die bei der Aufdeckung des Abu-Ghraib-Folterskandals um die Welt gegangen sind, und es gibt den Moment, wo sich Ich und Körper (Sänger und Tänzer) gegenseitig quälen. Atemlos läuft dies ab, Schloemer gewährt uns nur wenige Ruhepunkte wie etwa in Pedrillos «Im Mohrenland» oder in Belmontes «Ich baue ganz». Und auch diese Arie wirkt beängstigend: Eng sind die beiden Körper von Johannes Chum (Belmonte-Sänger) und Graham Smith (Belmonte-Tänzer) verzahnt, unglaublich, was beide hier darstellerisch zu leisten haben. Schloemer spitzt das Geschehen schliesslich so zu, dass der Akt der Gnade am Schluss als Gipfelpunkt des Psychoterrors wirkt. Eine Inszenierung, die sich eindrücklich mit dem Stoff auseinandersetzt, die einen trifft. Das ist hartes, aktuelles, im positiven Sinne unbehagliches Musiktheater - nicht zuletzt auch dank Mozart.

Und das ist grossartig gespieltes und getanztes Musiktheater: Das Freiburger Barockorchester geht unter der Leitung von Attilio Cremonesi voll zur Sache, packend, hoch dramatisch. Dazwischen hat es auch improvisatorisch einige Auftritte Bassa Selims zu begleiten. [...] Fabelhaft, wie die auch mit letztem Körpereinsatz in das Gesamtgeschehen eingebundenen Sängerinnen und Sänger ihre Gesangspartien meisterten: Robin Johannsen (Konstanze), Lini Gong (Blonde), Johannes Chum (Belmonte), Eberhard Francesco Lorenz (Pedrillo) und Raphael Sigling (Osmin) brillierten sowohl in ihren Arien als auch als Ensemble. Und was das Tanzensemble mit Alice Gartenschläger (Konstanze), Murielle Elizéon (Blonde), Graham Smith (Belmonte), Clint Lutes (Pedrillo) und Tommy Noonan (Osmin) leistete, war umwerfend.

Alfred Zimmerlin