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Tages-Anzeiger, 16. September 2008

Die «Entführung» als Experiment

Hoch sind die Erwartungen, wenn Joachim Schloemer, diesjähriger «artiste éoile» in Luzern, Mozarts «Entführung aus dem Serail» inszeniert, choreografiert, den Text rhythmisiert - und das Orchester (auf sein Geheiss) auch noch improvisiert. Am Schluss ging das Regiekonzept des Tänzers und Choreografen auf: In Strassenkleidern in fröhlichen Farben (Kostüme: Dagmar Morell) stehen die aus der Gefangenschaft Entlassenen etwas verunsichert auf freiem Fuss, hopsen dann überdreht in der Gegend herum oder singen: «Wer so viel Huld vergessen kann, den seh man mit Verachtung an.»

Der Text erscheint als reinster Hohn, und Beklemmung ergreift den Zuschauer. Denn zuvor hat man einen Abend lang mit angesehen, wie diese Menschen an Leib und Seele geschunden wurden, bis sie sich mit ihrem Aggressor identifizierten und schliesslich sich selbst quälten. Statt eines heiteren Singspiels mit orientalischem Einschlag gibts also «Überwachen und Strafen»: Jens Kilians Bühne ist mehrfach verspiegelt, sodass es keinen Winkel gibt, den man nicht überblicken könnte, und in Flüssigkeit «aufbewahrte» Opfer erinnern an Damien Hirsts Formaldehyd-Exponate. Das Ziel: ein Experiment am Menschen.

Versiert und durchaus pointiert begleitete das Freiburger Barockorchester unter Attilio Cremonesis Leitung, und durch die begrenzte Lautstärke der historischen Instrumente kamen die «Krachmach-Effekte », mit denen Mozart humoristisch die türkische Musik imitierte, zu ihrer vollen Geltung. Auch das junge Gesangsensemble fügte sich mit seinen nicht allzu schmetternden Stimmen überzeugend in die musikalische Topografle. Robin Johannsens Konstanze hörte man den Adel und die sanfte Schönheit auch stimmlich an, ihr Partner war Johannes Chum als Belmonte. Kecker und agil tönte Lini Gongs Blonde, und Raphael Sigling zeigte mit seinem sonoren Bass und getragenen Arien auch Osmins melancholische Seiten auf.

[...] Da der Sprechtext aller Personen dem - weiblichen - Bassa Selim überantwortet wurde, erschien die Figur als sadistisch-psychotische «Marionettenspielerin». Mit kühler Freundlichkeit liess Marianne Hamre ihre Opfer agieren und interagieren. Die Körper, die Seelen, die Gefühle der Gefangenen - allesamt Teile ihres Experimentes. So erschien jede Heiterkeit als Farce oder zumindest als verzweifelter Griff nach einem emotionalen Strohhalm.

Dass den Sängern jeweils ein tanzendes Alter Ego zur Seite gestellt wurde, brachte ein zusätzliches verfremdendes Element ins Spiel. Die Sänger standen also und sangen, die Tänzer tanzten, der Bassa sprach, das Orchester improvisierte atmosphärische Klänge (angeführt von Murat Coskun), und das Geschehen teilte sich eher in verstörenden Einzelbildern als in einer erlebbaren Handlung mit. [...]

Anna Kardos