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Tages-Anzeiger, 5. August 2006

Mozarts «Unvollendete» wird gelungene Choreografie
Salzburger Festspiele: Joachim Schleimers Mozart-Trilogie «Irrfahrten» verknüpft Fragmente zu spannenden und witzigen Abenden.

Es gebe keinen «jungen» Mozart, sagen die einen, keine «minderen» Werke. Die anderen sind mit den sechs, sieben grossen Mozart-Opern zufrieden und finden das enzyklopädische Hervorkramen des Frühwerks unsinnig, so wie das jetzt in Salzburg betrieben wird.
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Gleich drei Opern zu bewältigen, hat man dem seit Ende der Neunzigerjahre als Opernregisseur tätigen Choreografen Joachim Schloemer aufgetragen. Er fand eine Lösung, die eine blosse Aneinanderreihung vermeiden wollte. Unter dem Titel «Irrfahrten - Eine Mozart-Trilogie» führte er das Publikum durch drei thematisch verknüpfte Abende im Salzburger Residenzhof mit «La finta semplice», Mozarts erster abendfüllender Oper, den Fragmenten «L'oca del Cairo» und «Lo sposo deluso» sowie einer grossen Zahl weiterer, zum Pasticcio zusammengesetzter Werkteile instrumentaler und vokaler Natur.
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Die von Michael Hofstetter geleitete Camerata Salzburg spielte sich unaufdringlich elegant und federnd durch Partituren von der Sinfonie bis zum Duo Hammerflügel-Violine und zeigte dabei sauberen Orchesterklang und grosse kämmer-müsikalische Stärken.
Eine unvollendete Fantasia für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola und Violoncello, die Arie «Schon, lacht der holde Frühling», der Beginn eines langsamen Satzes zu einem Klavierkonzert, das Requiem - Mozart hinterliess manches Unfertige. Und Schloemer bettete die beiden Opernfragmente «L'oca del Cairo» und «Lo sposo deluso» klug in einen ebenso fragmentarischen Kontext.
«Irrfahrten», so die Dramaturgin Bettina Auer, frage danach, wie es möglich sei, sich als Künstler zu etablieren. Als freier Künstler notabene, der Mozart als einer der Ersten war, Dabei kombiniert Schloemer die Diskussion um Unabhängigkeit im künstlerischen Sinne mit dem für Mozart dringlichen Problem der finanziellen Unabhängigkeit von gönnerhaften Dienstherren. Das Fragment ist hier Zeichen künstlerischen Suchens. [...]
[...] Der zweite Teil sodann: «Abendempfindung». Die Sopranistin Ann Murray, hochmusikalisch gestaltend, sowie der Tänzer Graham Smith und die erneut auftretende, durch ihre witzige Sprachhandhabung auffallende Marianne Hamre beleuchten als gleichartige Künstler-Ichs die Seelenräume des irrfahrenden Mozart. Das Dekor, nun blau, deutet ein Schwimmbad an (Bühne: Jens Kilian). Vor Spiegeln sich befragend, vervielfältigt noch durch die Videosequenzen des Duos Fettfilm, tritt uns ein manisch-depressiver Mozart entgegen. Entsprechende Briefstellen und traurige Musik skizzieren den Künstler als unverstandenes Genie. Als Klischee. Das aber muss Schloemer am Herzen gelegen haben, findet er für sein spartenübergreifendes Musiktanztheater hier doch stimmige Bilder. Der zögerlich auf dem Sprungbrett Stehende, der Tanzende, dem es immer wieder den Kopf auf den Erdboden herunterzieht - das sind Kostbarkeiten, die diesen Teil, ganz seinem Titel gemäss, als sensibel empfundenen Abend zeigen. Das Ende, es wird geschwommen und durch den Frühlingswald gegangen, signalisiert Aufbruch.
Frohgemut also geht es in die dritte Runde, «Rex tremendus». Die Bühne ist nun beinahe Ohne Dekor, die Kleidung alltäglich. Die beiden verbleibenden Opernfragmente werden gar nicht erst stringent erzählt, sondern enden im Klamauk, in einer Show mit krähender Moderatorin.
[...] Und danach? In getrennten Lichtkegeln arbeiten sich die Tänzer an Schloemers anstrengendem, schönem Figurenrepertoire ab. Das Orchester, über die Bühne versplittert, spielt nun eine unvollendete Notengruppe nach der anderen. Bezüge zur Musik sind frei herbeifantasierbar. Die «Irrwege» des Künstlers enden in impressionistischer Isolation. Oder in jener zuckrig möblierten Kiste am rechten Bühnenrand, in der Ann Murray im Rokoko-Morgenmantel häuslicher Liedkunst frönt. Oder im Vergolden noch des letzten Mozart-Musikfetzens.
Gibt es also den «minderen» Mozart gar nicht? Wenn aus der gegebenen Fragmentierung Mozarts «Unvollendete» wird und sich daraus eine so gelungene Musikchoreografie ergibt: nein. [...]

Benjamin Herzog