Foto

Neues Deutschland, 9. August 2006

Kinder-Arbeit am Requiem
Salzburger »Irrfahrten« zum Frühwerk Mozarts, zu Entwürfen, Satzanfängen, Fragmenten

[...]
Kein Ort für große Oper, sondern für das Unfertige, für den Versuch [...] »Irrfahrten« heißt das Projekt von Regisseur Joachim Schloemer, Dramaturgin Bettina Auer und Bühnenbildner Jens Kilian, das an drei Abenden (»La finta semplice«, »Abendempfindung«, »Rex tremendus«) Mozart-Fragmente bot: eine Buffa des Zwölfjährigen, die beiden Opern-Bruchstücke »Der betrogene Bräutigam« und »Die Gans von Kairo« sowie Lieder, Briefe, kurze, angearbeitete Tonfolgen und so genannte Kuckucksarien, also Einlagestücke Mozarts für Opern anderer Komponisten. Satzanfänge, Entwürfe, Skizzen. Ein Stöbern in Köcherverzeichnissen. Frühstreiche eines Genies. [...] Schloemer versteht den Dreiteiler auch als Weg durch Mozarts Leben. Ein Weg vom musikalisch Schematischen, ästhetisch Kopiehaften, das unabdingbar am Anfang einer Laufbahn steht, hin zum reifen Individuellen. Ein Weg von der Nachahmung über die schöpferische Anverwandlung hin zum unverwechselbaren Tonfall. Die Camerata Salzburg unter Leitung von Michael Hofstetter, der Chor der Ludwigsburger Schlossfestspiele, die Tänzer des Choreografen Schloemer- keine Feststimmung (zunächst), keine Festkleidung, keine prononcierten Positionen auf der Bühne, nein, oft eine Art Verstreutsein der Künstler über diese Bühne, so, als probiere man, als herrsche Improvisation, als befände man sich in einer Werkstatt. Irrfahrten - ein Wagnis; schon im Titel der Doppelboden von Abenteuer und Scheitern. Jeder Aufbruch, jede Erkundung ein Weg letztlich ins Nichts, in die Auflösung. Kunstausübung als Vollzug von Lebensstationen, die im Falle Mozarts durch den exemplarischen Zusammenfall von erschütternder Größe und erschreckender Kürze dieses Lebensweges bestimmt sind. Mozart an diesem Abend: Kinder-Arbeit am großen Requiem, dem am Ende der Tod die Stimmen führt. [...]
Was also ist da an drei Abenden zwischen Ulk und heftig-sanftem Empfinden entstanden? Eine Kunst, die sich dem Entzücken an der Normalität versagt und sich statt dessen den heiklen Forderungen des Symbolischen stellt - selbst auf die Gefahr hin, das Erschaffene rühme zu sehr die Idee, als dass sie betörend darin aufgehe. Schloemers »Irrfahrten« wollen den vielfach verschränkten Codes des Unbewussten, die diesen musikalischen Fragmenten innewohnt, eine bindende Ausdrucksform abringen. Mitunter schlägt da die Zwangsneurose des klaren gültigen Gedankens durch, der am Ende doch nicht zu fassen ist. In den schönsten Momenten aber, wenn sich die Regie gewissermaßen gelassen die Stirn entriegelt, sich der undeutbaren Assoziation überlässt, wenn Reichtum durch Verzicht entsteht, wenn der Lärm der turbulenten Aktion an sich selber ermüdet - dann plötzlich, in Augenblicken tönender mystischer Regungslosigkeit, erschauern wir vor der Kraft des Unvollendeten, das in den Fragmenten zur Auskunft drängt.
Das Unvollendete, weniger verstanden als Urteil über den Entwicklungszustand einer Komposition, sondern erfühlt und verinnerlicht als ewigen Weltzustand, der in uns tobt, der alle Hoffnungen anstachelt und gleichzeitig abtötet. Denn etwas nicht zu Ende Gebrachtes, etwas, das noch Beginn atmet, obwohl es in der Unwiderruflichkeit des Unperfekten eingefroren bleibt - wir betrachten es mit schönem zerrendem Zwiespalt. Alles Unfertige in der Kunst spricht uns aus dem sehr realen Herzen, das ja fortwährend am Unvollendbaren unserer Träume erkrankt - aber in die Traurigkeit mischt sich auch Besänftigung: Das Fragment ist das Wahre.
Vor allem im letzten Teil des dritten Abends, »Rex tremendus«, wird die Verbindung von Musik und tänzerischer Assoziation zu einer bedrängend wehmütigen Lebensreise. Die Tänzerziehen mit Kreide kleine beleuchtete Kreise auf die Bühne, in denen sie abwechselnd, zwischen den Musikern, gleichsam Klang-Körper werden. Zu Tonfolgen, die den Raum anreden, die sich der Welt bemächtigen in Überschwang und auch Ahnungen von Finsternis und Einsamkeit; zu Musik, die hinaus will und doch ein Tiefinnen bleibt, Seele. Man hört diese Musik, denkt an einen Zwölfjährigen, dessen Fantasie sucht, tanzt, übermütig lacht, dessen Trauer noch viel Barockes hat - und dann geht Ann Murray über die Bühne, durchschreitet die Kreise der Tänzer, singt die »Abendempfindung für Laura«, und es triumphiert eine Innigkeit, die stocken macht.
Wann hat etwas Größe? Wenn es, sehr unverwechselbar, doch allen Menschen offen steht. Und wenn man nach dem Kunsterlebnis - in Salzburg!! - in fremde Gesichter schaut, ohne an Macht oder Geld zu denken.

Hans-Dieter Schutt