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Süddeutsche Zeitung, 5. August 2006

Auf den Flügeln des Fragments
Abende der Gaukler und Musiker: Joachim Schloemer führt durch seine Mozart-"Irrfahrten" im Residenzhof

Vielleicht ist das nicht die abgesichert vollendete, formal runde Produktion der Salzburger Geburtstagsfestspiele. Aber gerade "Irrfahrten" auf unerprobtem Gelände, wie sie sich Festspielchef Peter Ruzicka für seinen Mozart-Reigen bestellt, hat, bringen eine Performance hervor, die in die Zukunft zu weisen scheint. Joachim Schloemer, Autor, Regisseur, Choreograph des "Irrfahrten"-Abenteuers, hat sogar den Salzburger Kanon der 22 Bühnenwerke Mozarts aufgewirbelt: Plötzlich wird das scheinbar solide Gefüge von Gesamtwerk, Werkteil und Bruchstück selbst brüchig, entstehen neue Spiele und neues Glück aus versprengten, vielfach fragmentierten Werkelementen. Ergibt sich etwa so ein neues Ganzes?
Das Opus, das da im überdachten, am dritten Abend vom Regengeprassel zusätzlich beschallten barocken Residenzhof präsentiert wurde, könnte in Schloemers Worten auch folgenden Untertitel tragen: "Odyssee eines Künstlers von der Fremd- in die Selbstbestimmung." Gemeint sind Mozart selbst und eigentlich der Künstler - oder alle Menschen, die sich durch Krisen des Lebens durchzukämpfen haben zur eigenen Freiheit. Schloemer ist Körper- und Seelenchoreograph (siehe SZ vom 1. August), und was er bietet, ist eine Art Musiktheaterlehrstück in drei Teilen mit Mozart. Mit dessen erster Opera buffa von 1768, "La fin-ta semplice" KV 51, als komisch-unfertigem Eingangstor.
Die Story nach einer Goldoni-Komödie um drei unterschiedlich begabte und frisch liebes(un)fähige junge Paare, die sich durch allerlei amouröse Irrungen-Wirrungen durchkämpfen, könnte in der schnurrenden Abfolge von fast zwei Dutzend Arien und wenigen Ensemble-Nummern durchaus langweilen, zumal der 12-jährige stürmische Mozart noch, bei allem erstaunlichen Talent, meist an der Opernkonvention der Zeit klebt. Das sind noch keine Charaktere, eher Comme-dia-dell'arte-Typen. Der blutjunge Komponist hat die seelische Mechanik der Liebe, geschweige deren Abgründe, noch nicht erfasst oder gar erfahren.
Schloemers Lockerungsübung bei dieser schon erstaunlich routinierten Buffa bestand nun darin, dass er dem Spiel eine "Auctoritas" genannte Allegorie beifügte, eine Spielleiterin oder Trainerin (im gelben Sportdress virtuos Marianne Hamre), die die Figuren stämmig präsentiert und ihre Dummheiten und Defizite sarkastisch bis zynisch kommentiert. Sie schubst sie alle in die Liebesspiele hinein - um sich am Ende selbst dem tölpelhaften Don Polidoro an den Hals zu werfen, der bei Goldoni-Mozart als einziger leer ausgeht. Das ist hübsch erfunden und amüsant gemacht, wie überhaupt ein starkes Körpergefühl dem Spiel der Figuren über drei Abend hinweg Profil gibt.
Gesungen wird von einer jungen Sängerschar, engagiert begleitet von der Camerata Salzburg unter dem elegant-energischen Michael Hofstetter, mehr als nur achtbar. Einzig Malin Hartelius in der führenden Rolle der Rosina gelangt mit ihrem weich timbrierten, ausdrucksstarken Sopran über den Durchschnitt hinaus, in der Partie sind Andeutungen einer tragischen Dimension von Angst und Liebe enthalten. Wie ihre Gefühle in der Arie im zweiten Akt von einer dunklen, nackten Doppelgängerin und Tänzerin (Anna Tenta) erotisch umspielt werden, ist meisterlich choreographiert und besitzt Fallhöhe. Bühne und die Kostüme (Jens Kilian) sind ganz in blendendes Weiß getaucht, auf vier sternförmig zugespitzten Schrägen entstehen feurig-dynamische liaisons dangereux. Doch mit fortschreitendem "Erfolg" der Liebenden gewinnt die Farbe Rot die Oberhand, zunächst in Accessoires von Schuhen oder Gürteln, später wird wie wild aus roten Farbtöpfen auf Körper und Outfits auf getragen.
"Abendempfindung" nennt sich der zweite Abend, der zum ersten den denkbar schärfsten Kontrast aufbietet. Er bringt emotionale Vertiefung als krisenhafte Suchbewegung, will eine "Reise ins Innere der Seele" andeuten. "Abendempfindung" heißt Mozarts Arie KV 523 aus der Zeit, als er die "Zauberflöte" komponierte: reine Todespoesie in sublimierten Sprachbildern, Metaphern von Tränen, Schmerz und Bitterkeit, in ruhig fließender Musik zum leise wehmütigen, lyrischen Ganzen verschmolzen. [...]
An Stelle der gleißenden Bühnenhelligkeit: die abgedunkelte offene Bühne. Der Musik- und Textanteil - Rezitationen aus Mozart-Briefen der Krise, Gefahr und Selbstbehauptung- und eine in raffinierten Spiegelungen und Projektionen auf gesplittete Bildebene sind strikt reduziert und stilisiert: Künstlerische Kargheit, ja Dürre üben beklemmende Wirkung aus, es gähnt Leere, inszenatorische Sprödigkeit, ein stockendes Spiel mit Objekten. Wasser ist das wichtigste Medium: Wasser-Projektionen auf die Residenzfassade, ein Wasserbecken im Hintergrund, darin ein rätselhafter Schwimmer in Aktion, ein Sprungturm wie in einem Freibad, von dem eine Person in versuchter Tapferkeit oder Selbstfindung sich (in letzter Sekunde doch nicht) in die Tiefe stürzt. [...] Umso mehr gewinnt der zerbrechliche, ja völlig entmaterialisierte Ton der "Glasharmonika" Gewicht, Mozarts Stücke für das seltsame Instrument, etwa das berühmte Adagio KV 617 - Gläser und Röhren unterschiedlicher Größe werden mit den Fingerkuppen gestrichen -üben im Zusammenhang der assoziierten Lebenskrise einen melancholischen Zauber aus.
Schloemers Mozart-Irrfahrten - ein Reigen um Leben und Tod. Jugendlich, frech und amüsant die erste Station mit der ersten vollendeten Buffa des halbwüchsigen Mozart, dunkel-orientierungslos, zwielichtig, zwiespältig die zweite mit Briefen, Einzelstücken und Fragmenten Mozarts, grandios erhellend, gedankenspekulativ und todessüchtig die dritte Station der Trilogie. Vor der Pause spielte und sang das Ensemble des ersten Abends, animiert wiederum von der Trainerin, die Fragmente aus Mozarts unvollendeten Opern ;,Lo sposo deluso" KV 430 sowie "L'oca del Cairo" KV 422 - Mozart auf Suche nach höchster Meisterschaft, deutlich schon in der Nähe der drei Da-Ponte-Opern. Nach der Pause wurde man Zeuge geradezu eines Laborversuchs über die Frage, was "Fragment" überhaupt heißt und bedeutet - nur vorzeitiger Abbruch des Erfindens und Komponierens oder doch ein tiefes Rätsel der Kreativität?
"Rex tremendus", das Wort aus dem "Requiem", gab den Namen für diese letzte "meditative Reise" mit sechs Tänzerkörpern und rund zwanzig Bruchstücken aus Sonaten und Konzerten, die in ihrer Sekundenlänge bestürzten - immer wieder Schnitt, Abbruch. Warum hat Mozart nicht weiterkomponiert? Musiker solo und in Gruppen sitzen auf düsterer Bühne, eine Solovioline intoniert eine scheinbar nicht gelungene Melodie, zwei Celli, Bläser lassen einen spärlich harmonisierten Satz erklingen, verstummen jäh. Zu den Fragmenten bieten die Tänzer zuckend kontrapunktierte Körperimprovisationen, und Ann Murray gibt noch einmal die "Abendempfindung", jetzt als ein fahles, mattes Gebilde. Schließlich die Skizzen zur Sequenz aus dem "Requiem" bis zum bewegenden Abbruch des "Lacrimosa", dann die Skizze zu einer "Amen"-Fuge. Mozart unser! -auch in Salzburg ein bleibendes Rätsel.

Wolfgang Schreiber