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Stuttgarter Nachrichten, 20. August 2008

Eine Anstrengung, der sich nicht jeder stellt

[...] Im Luzerner Saal imaginiert Joachim Schloemer allerdings, als Artiste Etoile für eine ganze Reihe von Veranstaltungen verantwortlich, ganz andere Naturgewalten. "In Schnee" heißt sein "visuelles Tanz-Musik-Projekt", das sich mit den sechs Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach beschäftigt. Seiner Meinung nach führt uns die Musik den Schnee im wahrsten Sinne des Wortes vor: als "permanente Aufschichtung der Töne in obere und untere Schichten".

Das kann man selbstverständlich so sehen. Vom "Zauberberg" Thomas Manns und insbesondere dessem "Schnee"-Kapitel hat sich Schloemer inspirieren lassen. Ermöglich haben die Koproduktion das Lucerne Festival, Schloemers in Freiburg und Heidelberg beheimatetes Tanzprojekt "Physical virus collective", das Grand Théâtre de la Ville Luxembourg und das Théâtre Royal de la Monnaie Brüssel. In dem "Schnee"-Kapitel lässt sich der lungenkranke Protagonist Hans Castorp allen Warnungen zum Trotz von einer
Wanderung nicht abhalten. Prompt setzt ihm denn auch ein solches Schneetreiben zu, dass C., wie ihn Schloemer im Programmheft in Anlehnung an den Roman nennt, unter dem Dach einer Hütte Unterschlupf suchen muss. Auf sich selbst zurückgeworfen, hat er dort seine ersten Halluzinationen und tritt, wie der regieführende Choreograf im Interview mit Xavier Zuber sagt, "in ein rein mentales Reich, in ein Elysium, in dem ihm Bilder aus seinem Leben erscheinen. Bei dieser Gelegenheit entdeckt C., dass er durch diese
Erfahrungen ganz bei sich ist."

Bei Schloemer ist er am Ende insofern mit sich im Reinen, als er längst hinter dem Bild, das er von sich gemacht hat, verschwunden ist. Einer der drei Cellisten sitzt noch auf der Bühne, die letzte Suite spielend, und ohne von der komplexen Komposition abzulenken, steht die Musik in ihrer einzigartigen Größe allein im Raum. Am Anfang ist das noch anders. Da scheint Daniel Jaber noch von ihr wie von einem Sturm gebeutelt. Erst als er sich in seinem schwarzen Mantel auf einem Berg von Stühlen niederlässt, findet er für einen Augenblick die Ruhe, die er sucht. Doch schon ist ihm Paea Leach auf der Spur, halb Femme fatale wie aus einem japanischen Manga, halb Kundry aus Wagners "Parsifal". Sie scheint ihn zu begehren, verkriecht sich in ihm, als wär sie ein Sukkubus, ein Dämon, der sich von der Energie des Schlafenden nährt. Schwer zu enträtseln, was sie wirklich von ihm will. Immer wieder andere Bilder assoziierend, erschafft Schloemer einen etwas kryptischen Kosmos, der sich dem Publikum selbst beim Lesen der "Zauberberg"-Zitate nur schwer erschließt. Das macht diese "Besteigung" in Wahrheit zu einer Anstrengung, der sich nicht jeder stellt. [...]

Wer bleibt, wer das Bühnenhaus betritt, das Mascha Mazur mit ein paar Balken baut, erfährt möglicherweise mehr über sein Innerstes, als er zuvor für möglich gehalten hätte. Castorfs Spuren folgend und dabei mit den Bach-Suiten konfrontiert, erkennt der Zuschauer am Schluss sich selbst. Das muss man einmal erlebt haben.

Hartmut Regitz