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Neue Zürcher Zeitung, 18. August 2008

Verschlungene Wege in die Innerlichkeit
Die Tanzproduktionen «in schnee» von Joachim Schloemer und «Klezmer» von Verena Weiss

[...] Joachim Schloemer [schickt] in seinem Tanzabend «in schnee» die Cellisten Sebastian Diezig, David Pia und Mattia Zappa mit Johann Sebastian Bachs Cello-Suiten auf eine verschlungene Reise in die Innerlichkeit.

[...] Ein weisses Flimmern legt sich in Joachim Schloemers Winterreise über die Seelenlandschaft eines Reisenden im bauschigen Mantel. Der Tänzer Daniel Jaber mit den brennenden Augen wirkt zugleich matt zum Niedersinken und rastlos umhergetrieben. Schloemers Tanzwerk wurde von Hans Castorps Schneewanderung in Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» angeregt. Auf der Bühne des Luzerner Saals im KKL steht ein Zelt, das nacheinander als Unterstand, Hotelhalle und Seelengefängnis dient. Eingehüllt in flirrendes Weiss und Bachs Musik - beides hat für Schloemer halluzinatorische Wirkung -, begegnet die Hauptfigur ihren Dämonen und Doppelgängern.

[...]

Beide Choreografen verwenden die Musik relativ frei für ihre Assoziationen. Interessant wird dies, wenn die Musik nicht nur die Tänzer bewegt, sondern der Tanz auch neue Facetten der Musik freilegt. Welche erotische Ausstrahlung etwa hat die Allemande aus Bachs erster Cello-Suite, wenn dazu eine Frau dem Protagonisten schlangengleich unter Hemd und Mantel kriecht? Weshalb lässt sich zum Prélude der Suite Nr. 2 so leichtfüssig mit dem Seil springen? Und warum ist die Courante der dritten Suite eine so hurtige Begleitmusik zu einem riskanten Ritt auf kippenden Stühlen? Schloemer hat dafür hervorragende Darsteller: sechs Tänzer und drei Cellisten, die Bachs Solowerke mitunter auch zu zweit und zu dritt musizieren, was in der Intonation etwas schräg tönt. Der Choreograf gibt jede Menge Denkanstösse. [...]

Nach der Pause ist in «in schnee» alles anders. Die betriebsame äussere Welt auf der Bühne verschwindet, und es spielt sich nun alles im Kopf des Protagonisten ab. Zur fünften Suite scheinen karge, filmische Erinnerungsbilder auf. In der Beschränkung der szenischen Mittel zeigt sich Schloemers ungeheure Bildphantasie. Der Versuch des Protagonisten, sich in der schonungslosen Innenschau selbst zu finden, führt in die Entfremdung. Da bleibt nur noch die Gewissheit der Musik. Der Cellist Mattia Zappa spielt die sechste Suite hochkonzentriert und kraftvoll mit sprechendem Duktus. Als Zuschauer hat man am Ende das Gefühl, von einer langen, gefahrvollen Reise heimgekehrt zu sein.

Martina Wohlthat