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Der Landbote, 19. August 2008

Mit Bachs Cellosuiten unterwegs
Gleich vier Produktionen zeigt Joachim Schloemer am Lucerne Festival. Den Anfang machte das neue Tanzstück «in schnee».

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Das Tanzstück «in schnee» bewegt sich gleichzeitig auf mehreren Ebenen, die manchmal ein Eigenleben führen, klar abgegrenzt sind und wenig miteinander zu tun haben, sich aber auch ineinander spiegeln und sich gegenseitig durchdringen. Die Besetzung umfasst fünf Tänzerinnen und Tänzer in wechselnden Rollen, drei Cellisten, von denen jeder zwei Suiten spielt und neben dem Musizieren auch agiert, und einen Elektronikmusiker, der mittanzt.

Schloemer setzt ein überzeugendes Team ein, aus dem Daniel Jaber als C. und der Cellist Mattia Zappa herausragen. Auf der Ebene der Musik nimmt Bach den grössten Raum ein. Nur kurz erklingt als Kontrast etwas von Bernd Alois Zimmermann. Und
im Hintergrund ziehen ab und zu elektronische Gerausche vorüber. Zur ersten bis vierten Cellosuite machen sich auf der Bühne tumultuöse Bewegungsbilder breit, zur fünften und sechsten gibt es dagegen kaum mehr äussere Aktionen.

Und da entfaltet sich die Musik in einer Vollkommenheit und Spiritualität, die alles Szenische vergessen macht. Die inhaltliche, narrative Ebene spaltet sich in Imaginiertes und konkret Gezeigtes, also ins Wissen um die zusammenhängenden Romanhandlungen und die unzähligen nach dem Montageprinzip inszenierten Einzelepisoden und Zustandsschilderungen mit unterschiedlichen Blitzauftritten und längeren selbständigen Tanzszenen, mit grotesk scharfen Akzenten und perfekt koordiniertem Bewegungsfluss, mit handfesten, ruppigen Auseinandersetzungen, sofort zur Sache gehendem Paartanz und traumhaft schöner Übereinstimmung in
abstrakten, parallel geführten Bewegungen. Auf der visuellen Ebene verwandelt sich der Schauplatz sukzessive und unwiederbringlich, während die Erinnerungsbilder und Medien des Gedächtnisses wie Filme, Fotos, Texte immer wieder Gleiches vergegenwärtigen wollen.

Schloemer häuft in seinem «in schnee» auf allen Ebenen vieles, oft allzu vieles auf. Wie beim Einschneien türmt sich darin eines aufs andere, lösen sich die Konturen des einzelnen auf, wird alles ununterscheidbar. Dadurch schickt er auch das Publikum auf eine Art Trip und macht am Schluss dank Bachs überwältigender Musik sogar die Wahrnehmung von etwas ganz anderem nachvollziehbar.

Ursula Pellaton