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SonntagsZeitung, 17. August 2008

Ein Schneesturm im Luzerner Sommer
Mit «in schnee» zu Bachs Solo-Cellosuiten begeistert und befremdet Joachim Schloemer das Publikum

Erstmals kommt im Jahr 2008 beim Lucerne Festival neben der Musik auch der Tanz zu Ehren. Der 46-jährige Choreograf, Tänzer und Regisseur Joachim Schloemer betreut dabei gleich mehrere Projekte. Am Freitag brachte er im Luzerner Saal des KKL «in schnee» zur Uraufführung. Eine ambitiöse Musik-Tanz-Theater-Produktion, ebenso grossartig wie verwirrend.
Durchwegs grossartig, farbig, tänzerisch kommt die Musik daher: die sechs Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach. Dabei lösen Sebastian Diezig, David Pia und Mattia Zappa einander an ihren Instrumenten ab, einer verführerischer spielend als der andere. [...]

Und der Tanz? Hans Castorp (der bärtige Daniel Jaber) trägt keine Skiausrüstung wie bei Thomas Mann, sondern einen schwarzen Mantel, schwarze Hosen, weisses Hemd. Nur kurz kämpft er gegen die Naturelemente an (elektronisch erzeugte Geräusche) - breitbeinig balancierend, in wechselnder Schieflage. Dann hat er schon das Hausgerippe erreicht, beginnt unter dessen Dach zu fantasieren.

Zuerst sucht ihn eine langhaarige Frau in violettem Kleid heim (Paea Leach), umgarnt ihn, schlüpft unter seine Kleider, steckt das Bein in den Mantelärmel und die Hand in seine Hose - eine Art «Guerra d'Amore» (so hiess ein Tanzstück von Schloemer zu Monteverdi-Musik in Basel, wo er 1996-2001 das Tanztheater leitete). Dann tauchen weitere Figuren aus persönlichem oder archaischem Gedächtnis auf, ein sportliches junges Mädchen, ein Mann in rotem Anzug, ein alterndes Paar. Sie bewegen sich in fliegendem Wechsel auf den Protagonisten zu, von ihm ab, durch ihn hindurch. Konzentriertes Körperbewusstsein, Wandlungsfähigkeit in Stil und Ausstrahlung sind gefordert - und werden von den Tanzenden auch erbracht. Schloemer hat sie von der Gruppe pvc Freiburg-Heidelberg mitgebracht, die er zurzeit leitet.

Der intensive Tanz, das Wühlen der Musik, der ständig sich verändernde Charakter der Tanzenden und des Bühnenbildes (Mascha Mazur) haben einem allmählich Sinn und Verstand geraubt. Man ist richtig froh, dass die Tanzenden eine Zeitlang in einem grossen Foto verschwinden, durchs Auge ins Hirn steigend. In der 6. Suite beherrscht der Cellist die Bühne dann fast allein. Die Tanzenden schrumpfen zu Pappfiguren. Grossartig. Verwirrend.

Marlies Strech