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Süddeutsche Zeitung, 1 August 2006

Lachen bis zum Zerfall
"Irrfahrten": Joachim Schloemer erforscht mit einer Trilogie das Wesen des Künstlers

Joachim Schloemer in diesen Tagen in Salzburg treffen zu wollen, ist ein etwas schwieriges Ansinnen. In einer Probenpause trifft man dort auf einen leicht zerzausten Regisseur, dem die Anstrengung, eine Mozart-Trilogie in einer eigenen Textfassung zu inszenieren, drei verschiedene Abende mit einer Gesamtspielzeit von sieben Stunden zu organisieren, jedoch nur so lange anzumerken ist, bis er mit Verve beginnt, davon zu erzählen. Also lediglich ein paar Sekunden lang.
Was zunächst als völlig hybrides Unterfangen erscheint, gewinnt in Schloemers Worten eine faszinierende Schlüssigkeit. Die Trilogie mit dem Gesamttitel "Irrfahrten" beginnt am 1. August noch ganz konventionell, mit der Inszenierung der frühen Buffa "La finta semplice" im Residenzhof. Tags darauf folgt am selben Ort "Abendempfindung", ein Pasticcio aus Arien, die Mozart für fremde Opern schrieb, Liedern, Instrumentalstücken und Briefen des Komponisten. Und am 3. August wird die Trilogie unter dem Titel "Rex tremendus" mit den originalen Teilen des Requiems, zwei Buffa-Fragmenten und anderen Splittern aus Mozarts Werk beschlossen.
Da fragt man sich unwillkürlich, was die drei Abende zusammenhält und ob sie gemeinsam wirklich mehr sind als drei unabhängige Aufführungen, als die man sie auch besuchen kann. Der Titel, "Irrfahrten", ist da zunächst ganz wörtlich gemeint. Joachim Schloemer will damit auf die "Odyssee eines Künstlers von der Fremd- in die Selbstbestimmung" hinweisen. Und da dies nicht sonderlich sinnlich-theatral klingt, wie Schloemer einräumt, erläutert er das Vorhaben so: "Es geht um einen Weg vom Eintritt ins Erwachsenenleben am Beispiel von 'La finta semplice' über die Krise des Künstlers, vergleichbar mit der midlife crisis, die wir alle irgendwann mal durchschreiten, hin zu einer Fragmentierung und damit der Befreiung von jeder Interpretation des eigenen Tuns." In dem Sinn, dass ein Fragment gar nicht die Gültigkeit eines geschlossenen Werks erreichen will, sonst wäre es ja vollendet worden.
An diesem Punkt spukt einem, auf der sonnenüberströmten Terrasse über dem Salzburger Domplatz, unweigerlich Adorno im Kopf herum, welcher dem Fragment in der heutigen, fragmentierten Zeit einen ungleich höheren Aussagewert zugestand als dem vollendeten Meisterwerk. Da ruft Schloemer erfreut "finde ich auch" und gesteht, dass der dritte Abend der Trilogie für ihn die Befreiung aus dem Korsett sei, in das man als Künstler immer irgendwie hineingezwängt sei. Gerade wenn man sich mit Mozarts Werk beschäftigt, wo ständig die Frage auftaucht, wie weit man gehen dürfe. In diesem Zusammenhang muss man auch den zweiten Abend, den der Krise sehen. Denn an einer von Mozarts Opern der mittleren Zeit könnte man die Krise, sei sie behauptet oder erforscht, kaum erzählen, da diese Werke ja als vollendete Kunstwerke vorhanden sind, jede ihrer Herstellungen also ein Überwinden einer Krise darstellt. So verfiel Schloemer auf die Pasticcio-Idee - ein seit dem Barock beliebtes Verfahren zur Herstellung neuer Stücke -, um sich genau jenem Wendepunkt zum individuellen künstlerischen Scharfen anzunähern. Und zwar paradigmatisch: "Irrfahrten" ist sicherlich eine Mozart-Trilogie, ist aber auch eine Trilogie über das Künstlerdasein an sich.
An deren Anfang steht ein Werk, das der zwölfjährige Mozart komponierte. Ein Werk über die Liebe, dessen Libretto ihm der Goldoni in die Hand drückte, das die Erwachsenenwelt insofern durchleuchtet, als darin von Herzen her keiner das tun will, was er eigentlich tun soll, aber letztlich tun wird. "In der Oper geht es bei dieser Grundkonstellation nur deshalb weiter, weil Mozart dazu eine Musik schreibt, die letztlich etwas anderes erzählt. Die Musik erzählt nämlich vom Wollen, auch wenn die Figuren noch gar nicht wissen, was sie wollen." Das klingt vielleicht etwas verworren, doch schließlich steht "La finta semplice" für Schloemer, bei aller musikalisch-analytischen Kraft Mozarts, für das Werk eines Zwölfjährigen, in welchem neben hölzernen Konstruktionen die ersten Genie-Blitze auftauchen. "Hier komponiert jemand, der erst über das Komponieren überhaupt etwas vom Leben erfährt."
Dementsprechend zeichnet Schloemer im Laufe des ersten Teils der Trilogie ein künstlerisches Erwachen. In seiner Inszenierung, die im Weiß beginnt und zunehmend Farbe annimmt, sollen vor den Augen der Zuschauer Figuren erst entstehen, die einen Charakter besitzen. Zu Beginn führt eine Schauspielerin die Figuren ein, ersetzt im Reden über diese die Rezitative, die erst schrittweise wieder zurückkehren. Also: Die Form der Oper wird ebenso erfunden wie die Figuren erfunden werden, wie der Künstler als Komponist sich an diesen selbst erfindet. Schloemer baut im ersten Teil von "Irrfahrten" eine Oper zusammen, die im dritten Teil wieder zerlegt wird.
Der zweite Teil, "Abendempfindung", beginnt dann gleich mitten in der Krise, im Aufgesplittertsein des Ichs. "Wann ist man mehr körperlich, wann mehr sprachlich, wann mehr klanglich orientiert? Wie findet man einen Weg aus dem Kreislauf, in dem man steckt?" Ohne zu privat werden wollen, denkt man da an Schloemers eigene Künstlerbiographie. Zunächst war er als Tänzer am Brüsseler Theatre de la Monnaie engagiert, gründete dann eine eigene Compagnie, war Ballettdirektor in Ulm, Weimar und Basel, machte sich im Jahr 2000 selbstständig und arbeitet als Choreograph, Opern- und Schauspielregisseur. Ein Mann des Körpers also, der Sprache und der Musik, der es sich in seinen Arbeiten selten einfach macht, wie er in Stuttgart mit "Rheingold" oder in Hannover mit einem kargen "Tristan" bewies.
Freilich will Schloemer nie seine eigenen Probleme auf die Bühne bringen, andererseits jedoch habe die ganze Trilogie mit ihm als Künstler sehr wohl zu tun. Was nach zweieinhalb Jahren der Arbeit daran auch nicht weiter verwundert. Eine Krise, falls es sie gab, muss er ohnehin überwunden haben, sonst könnte er die drei Abende nicht machen, die er für sein eigenwilligstes wie auch persönlichstes Werk hält. Die Überwindung des Kreislaufs, das Finden einer künstlerischen wie auch umfassend menschlichen Identität beendet den zweiten Teil. Und erzählt in ihrem erhofften Gelingen auch etwas über die Arbeit des Regisseurs, über die Selbstbestimmtheit im Tun.
Am Ende, in "Rex tremendus", zerfällt der selbstbestimmte Künstler. Und zwar in letzter Konsequenz seiner eigenen Entscheidung. Zu Beginn des dritten Teils wird anhand der beiden Buffa-Fragmente der Unsinn komplett übersteigert, bis in eine Art Punk-Action-Theater hinein. Dann folgt ein Bruch - in die Welt des Fragments hinein. Verschiedene Fetzen, Splitter sollen die Zuschauer spirituell darauf vorbereiten, das Requiem überhaupt erst hören zu können. In Dunkelheit. Als Abschied, als Entschweben, als Loslösung des künstlerischen Subjekts von allen Zwängen.

Egbert Tholl