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Badische Zeitung, 9 August 2006

All dieser Irrsinn, der zu nichts führt
"Irrfahrten": Joachim Schloemers Mozart-Trilogie in Salzburg

[...] der neue Freiburg-Heidelberger Tanztheaterkurator Joachim Schloemer [zeigt] im Innenhof der Alten Residenz eine Mozart-Trilogie, die zum Ungewöhnlichsten und Avanciertesten des gesamten Festspielprogramms gehören dürfte
"Irrfahrten" - so der die drei Abende zusammenfassende Titel - schlägt den denkbar größten zeitlichen Bogen in Mozarts Werk: von der ersten Opera buffa "La Finta Semplice", die der erst Zwölfjährige 1768 komponiert hat, zum "Requiem", das Mozart nicht mehr vollenden konnte. Dazwischen widmen sich Schloemer und seine Dramaturgin Bettina Auer, die eine grandiose Materialfülle gebändigt und gebündelt hat, dem Fragment. In der gigantischen Gesamtwerkfeier, die Intendant Peter Ruzicka mit dem Projekt "Mozart 22" in Szene hat setzen lassen, bildet es einen schönen Widerhaken. Dass das Unfertige, das Misslungene, das in die Sackgasse, die Irre Führende, seinen Platz im Werk eines Künstlers genauso beansprucht wie das Geglückte, muss immer wieder ins Bewusstsein gehoben werden - zumal in Zeiten, die den Perfektionismus feiern wie nie zuvor.
Zunächst aber am ersten Abend das vollendete Frühwerk: eine zelttypische amouröse Verwicklung von drei Paaren, die - wen wundert's beim jugendlichen Alter des Komponisten - keine charakterliche oder psychologische Tiefe gewinnen. Jens Julians grob geschneiderte weiße Kostüme tragen der auf seiner durch vier aufeinander zulaufende Dreiecke stilisierten Bühne Rechnung. Um die krude und banale Story überhaupt erzählbar zu machen, setzt der Regisseur eine Art Spielleiterin im schrillgelben Trainingsanzug ein. Die Schauspielerin Marianne Hamre schiebt die Figuren auf dem Schachbrett ihrer kaum glaubwürdigen Gefühle hin und her und sorgt für jene ironische Distanz, die aus einem wenig brillanten Erstling ein erfrischend geistreiches, luftig-heiteres Vergnügen macht. Einzig die beiden erstaunlich reifen Arien der Rosina (Malin Hartelius) deuten schon auf die Abgründigkeit hin, die in Mozarts großen Opern der Liebe stets innewohnt.
Hier ist das Happy End noch gänzlich ungetrübt. [...] So kann es bei Schloemer nicht weitergehen. Größer könnte der Stimmungsumschwung kaum sein, der einem am zweiten Abend ergreift. Ein Kammerspiel fast an der Grenze zum Verstummen - mit einigen sphärisch hingetupften Stücken für Glasharmonika - entfaltet sich um das Lied "Abendempfindung", das Ann Murray so herzergreifend weh singt, als sei's von Schubert.
Mozart, ein Romantiker avant la lettre; Wer den Choreografen Schloemer kennt, den dürfte diese Wendung nicht allzu sehr überraschen. Der Regisseur, der schon als Basler Tanztheaterdirektor genreübergreifend gedacht und gearbeitet hat, bringt in diesem introvertierten biografischen Intermezzo in dreifacher Mozart-Spiegelung die Sängerin mit einer Schauspielerin und einem Tänzer zusammen, dem fabelhaft beweglichen Graham Smith, der seine Figur grandios in der Balance zwischen Himmel und Erde, anmutiger Leichtigkeit und ständig drohendem Sturz hält [...] Ein Künstler auf der Suche nach Freiheit, immer wieder hinabgezogen von den kleingeistigen, auch ökonomisch engen Verhältnissen: So darf man, unterstützt von einschlägigen Briefpassagen, dieses Solo deuten.
Graham Smith, der in Freiburg mit Schloemer zum Leitungsteam der neuen Compagnie pvc gehört, begegnet man am dritten Abend ("Rex Tremendus") wieder, nach der Pause, wenn Michael Hofstetters transparent und federnd agierende Camerata Salzburg auch räumlich auseinandergerissen lauter Fragmente des Komponisten Mozart hörbar macht: Satzanfänge meist, oft nur wenige Takte lang. Dazu kreisen sechs Tänzer rasend schnell im engen Lichtkegel: Fortkommen ist nirgends. Das Ende naht.
Vorher ist noch einmal die Abteilung Schrill am Zuge: Die beiden Fragment gebliebenen Opern "L'Oca del Calro" und "Lo Sposo Deluso" ziehen vor der Pause als chaotische Nummernrevue vorüber. [...] Und dann - nach all diesem Irrsinn, der zu nichts führt, nach diesem tänzerischen Perpetuum mobile und der immer wieder neu ansetzenden Musik - ist das Ende da: Wuchtig zerreißt das "Dies Irae" des Requiems das Bühnendunkel. Ein letztes Fragment. Die "Amen"-Fuge bricht nach wenigen Sekunden brutal ab. In der Stille danach keine Versöhnung. Was für ein Schlusspunkt.

Bettina Schulte