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Neue Westfälische, 11 August 2006

Irrfahrten des Künstler-Seins
Joachim Schloemers multimediale Mozart-Trilogie überzeugte bei den Salzburger Festspielen

"Irrfahrten" heißt das kreativste Projekt der Festspiel-Gesamtschau "Mozart 22", von Joachim Schloemer als multimediale Trilogie aus Mozarts Buffa-Erstling, zwei unvollendet gebliebenen Opern und einer Collage rarer Perlen und unzähliger Fragmente ersonnen und inszeniert. Jeder Abend steht für sich; zusammen spiegeln sie den Lebensweg vom fremdbestimmten Wunderkind und Musikdienstleiter zum freien Künstler-Individuum wider, ein Spiel vom Werden, Sinnen, Suchen, Irren, Enden, das sich dem Feier-Objekt Mozart als Herausforderung stellt.
Ja, der Regisseur-Choreograf Schloemer hat mit der Dramaturgin Bettina Auer, dem Ausstatter Jens Kilian und dem Dirigenten Michael Hofstetter viel wagen wollen. Und in zwei Jahren Vorbereitung, über zwei Monaten Proben und einer aufwändigen Bühnentechnik im Innenhof der Residenz Vieles erreicht. Vielleicht kein Geniestreich, aber ein [...] gelungener musiktheatralischer Wurf, so rund wie die Darstellung des Unfertigen, Krisenhaften und Disparaten hinter dem Genial-Vollendeten eben sein kann.
Der erste Teil gilt "La finta semplice", der ersten abendfüllenden Buffa des 12-Jährigen. Was weiß dies Kind von der Liebe und wie Frau in dieser Goldonischen Typenkomödie einen dreifachen Heiratsverhinderer kuriert? Es ist noch wie ein unbeschriebenes Blatt Papier und so auch die in Origami gefaltete Spielfläche, auf der die klinisch weißen Figuren nach und nach Kontur und lustrote Farbe bekommen.
Anstelle endloser Rezitative führt eine Art Kuppelshow-Moderatorin (Marianne Hamre) aufgeräumt durchs dennoch etwas abstrakt-unlustig anmutende Geschehen. Musikalisch entzücken neben dem Notenwitz einer Anmach-Pantomime oder eines via "fettFilm"-Griffel kreuzkomisch ausgetragenen Duell-Duetts erste mozärtliche Seelentöne aus dem Mund der "verstellten Einfalt": Malin Hartelius' reizvoller Titelsopran und der Tenor Matthias Klink ragen aus dem gediegenen Ensemble heraus.
Folgt mit "Abendempfindung" ein Pasticcio aus elegischen Stimmungsbildern um den leidenden Genius: Die Schauspielerin rezitiert einschlägige Briefstellen; ein Tänzer (Graham Smith) gibt den Salzburger Zwängen und Ausbruchsversuchen zappelvirtuose Körperlichkeit. Die große Ann Murray singt [...] unvergleichlich ausdruckstief das todtraurige Titellied oder die italienische Einlage-Arie "Ich gehe, doch wohin?".
[...]
Der dritte Abend "Rex tremendus" gehört den Fragmenten und Extremen. Erneut ist der Buffa-Bär los. Aber die Heiratsscharmützel in "Der betrogene Bräutigam" und "Die Gans von Kairo" konnten Mozart kurz vor der "Figaro-Meisterschaft nicht mehr genügen, er brach nach einigen Arien und Ensembles ab. Das "Finta"-Prinzip greift hier alltagsklamottig überdreht, bis die spektakelnde Comedy in ein schier Rossinisches Tutti-Chaos mündet.
Total-Implosion. Das Orchester, die treffliche Camerata Salzburg, füllt in Grüppchen zersprengt die Bühne und stimmt Dutzende Bruchstücke aus dem KV-Anhang an. Man lauscht Gedankensplittern von fragiler Schönheit [...]
Noch einmal schreitet aufs Ergreifendste Ann Murray mit dem Abendlied heran. Im Glashaus-Eck, wo sie wider den Buffa-Lärm vergeblich den Liederabend geprobt hatte, werden die Gardinen zugezogen für eine Party der Schönen und Reichen. Draußen raucht einer seine letzte Zigarette; ein Chor besiegelt den Totentanz mit unvollendeten Skizzen des Requiems, so klangnackt und in Nichts verlöschend wie von Mozart hinterlassen. Das ist tief berührend, nachschwingend und die Trilogie verdient reich beklatscht.

Michael Beughold