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Berliner Zeitung, 10 August 2006

In Mozarts Labyrinthen
Rot, Blau, Nacht: Joachim Schloemers "Irrfahrten"-Trilogie bei den Salzburger Festspielen

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Jetzt ist der Wunschtraum, Mozart als Frage an unsere Gegenwart zu begreifen, doch noch in Erfüllung gegangen: durch einen Künstler, der noch das scheinbar belangloseste Fragment des Komponisten als Frage an seine eigene Künstlerexistenz erfährt [...]
Der erste der drei Abende im überdeckten Hof der Residenz beginnt durchaus konventionell in weißen Kostümen auf einer abstrakten Bühne, "La finta semplice" auf einen erstaunlich simplen Text des großen Carlo Goldoni. Diese erste Buffa zeugt von der stupenden Fähigkeit des zwölfjährigen Mozart, sich das Opernmetier anzueignen. Joachim Schloemer versucht in keinem Moment, es "bedeutend" zu machen, sondern versteht es als Zeugnis einer ersten Lebensphase, im Laufe derer die sieben Protagonisten zunehmend und im Wortsinn "Farbe - rote Farbe - bekommen". Gelenkstellen sind die erstaunlichen "empfindsamen" Arien der Rosina (bemerkenswert: Malin Hartelius), begleitet von der Camerata Salzburg unter Michael Hofstetter. Die noch ungeschickten Rezitative sind größtenteils durch die Anordnungen der resoluten Spielleiterin Marianne Hamre ersetzt. Dadurch bekommt die lahme Handlung Schwung, die Figuren geraten buchstäblich auf schiefe Ebenen, werden durch Liebe hilflos und verletzlich. [...]
Im zweiten, dem blauen Abend "Abendempfindung" stehen die Sängerin Ann Murray, Marianne Hamre, der Tänzer Graham Smith sowie vielfältige Spiegelungen und Videoeinspielungen dieser Personen im Mittelpunkt. Keine einzige Note aus einer Oper [...] Es wird keine Geschichte erzählt, sondern Zustände, Selbstbefragungen, eben: Irrfahrten werden in faszinierender Vielschichtigkeit ausgebreitet. Tänzer bilden zur Musik Kontrapunkte, Spiegelungen scheinen die Personen aufzulösen, die unterschiedlichen Darstellungsmittel bleiben autonom, keine Verdoppelungen. Gerade Ann Murray, deren Stimme immer wieder gebrochen, bedroht wirkt, erzielt beklemmende Wirkung, wenn sie am Ende das bereits zu Beginn erklungene Lied "Abendstimmung" (KV 523) wiederholt. So selbstsicher sich Mozart in den hier collagierten Briefstellen auch geben mag, in seiner Musik wird immer ein Leben auf des Messers Schneide spürbar, für das Schloemer gar den Ausdruck einer "morphing identity" wagt.
Am Ende der Trilogie: "Rex tremendus", eine Irrfahrt im Zeichen des Todes auf nachtdunkler Bühne. So wie in Alban Bergs Oper Wozzecks Leben im Moment seines Todes nochmals, in einer radikal neuen Perspektive und binnen Sekunden, abläuft, treffen hier alle Gegensätze aufeinander.
Zu Beginn die Ausgelassenheit der Buffa-Fragmente "Lo sposo deluso" und "L'oca del Cairo", fast nur mit Bässen und Hammerklavier begleitet, weil Mozart diese Arien und Ensembles nicht ausführte. Dann der Höhepunkt nach der Pause: Scheinwerfer bilden sechs kreisrunde Lichtinseln, auf denen Solotänzer selbstverloren, nur gelegentlich mit der Musik koordiniert, um sich selbst kreisen.
Eine Fülle von Fragmenten, viele nur wenige Takte lang; man vermeint Schubert, Mahler, Ives oder Kurtag in einer Kraterlandschaft zu hören. Nochmals die Moll-Sinfonie, zuerst vom Band als Hintergrundsmusik einer Party, dann unversehens von den auf der ganzen Bühne verstreut sitzenden Musikern live weitergeführt zu den fahlen Klängen der letzten, von Mozart geschriebenen Sätze des Requiems. Auch hier keine Ergänzungen, der kahle, von Mozart hinterlassene Satz - am Ende die erste Zeile des Lacrimosa, ein abgebrochenes Crescendo und die Skizze einer Amen-Fuge. Kein Schluss, vielmehr eine offene Frage [...]
Joachim Schloemers "Irrfahrten" sind das Resultat intensivster, bis zur Erschöpfung gehender Probenarbeit. In sich geschlossen bis zur rätselhaften Hermetik, mit Klangbildern, die den Besucher nach dem Ende eines jeden Abends nicht loslassen. Die Trilogie endet, aber sie ist nicht abschließbar. Schloemer und seine zahlreichen Mitwirkenden haben enorm viel gewagt; nicht alles kann da gleich überzeugend gelingen. Gelingen ist auch bei diesem aufs Ganze gehen kein Ziel. Doch an diesen Abenden hat niemand gezählt, für wie viele der angeblich 22 Mozart-Opern diese "Irrfahrten" stehen. Was sie, vor allen andern bisherigen Musiktheaterproduktionen dieser Festspiele, so beeindruckend einige auch gewesen sind, fundamental unterscheidet: Hier war Mozart, sein Schaffen und seine Biografie, kein Objekt, das festlich reproduziert wurde, keine "klassische" Selbstverständlichkeit. Mozart wurde als Herausforderung der Gegenwart, der Künstler, des Publikums, auch der Institution Festspiele verstanden. Jenes Selbstverständnis, das diese sonst so selbstsicher verkünden, ist künstlerisch eingelöst worden.

Jürg Stenzl