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Frankfurter Rundschau, 21. Mai 2003

Geräusche der Blutsäufer
Mitterers "massacre" bei den Wiener Festwochen

Das Musiktheater lebt - nicht nur in den Opernhäusern, die überwiegend das herkömmliche Repertoire zeigen, sondern auch auf der "zweiten Schiene" ambitionierter, spezialisierter Festivals. Foren wie die Münchner Biennale, das Holland Festival, der Steirische Herbst oder neuerdings die Ruhrtriennale ermöglichen und etablieren einen Typus von Stücken, den es ohne sie kaum gäbe. Die zumeist eigens für diese Anlässe konzipierten Werke verbleiben auch weithin im Bereich solcher Expertenkultur und ohne große Auswirkungen auf allgemeinere Opern praxis (aber was wäre schon deren Allgemeinheit angesichts ganz anderer massenkultureller Phänomene?).
Namentlich die Wiener Festwochen zählen zu den Ermöglichern und Ermutigern sperrig-kratzigen, jeglichem Kommerzgedanken zuwiderlaufenden Musiktheaters. Die hier angesagten Uraufführungen haben sicherlich einen eigenen Snob-Appeal, der sie aus der Nachbarschaft lautstärker annoncierter Opern-Events (wie in diesem Jahr der Staatsopernpremiere Tristan mit Christian Thielemann) heraushebt. Die Bescheidenheit provinzlerischhalbamateurhafter Herangehensweise braucht nicht befürchtet zu werden; den neuen Kreationen werden zum Start die besten Aufführungschancen gegeben. So setzte sich für Wolfgang Mitterers massacre kein Geringerer ein als der bedeutende Regisseur und Choreograph Joachim Schloemer, und die musikalische Leitung übernahm Peter Rundel, eine der Koryphäen avancierter Musikwiedergabe.
Gehöriges Premierenfieber denn auch bei den neugierig im ehrwürdigen Ronacher erschienenen Connaisseuren. Der ehemals für deliziöse Variete-Sensationen reservierte Tempel im 1. Bezirk taugte nun zu einem mit Champagnerseligkeit nicht mehr so recht zu vereinbarenden Spektakel, bei dem Katrin Brack auf sonst nüchternleerer Arbeitsbühne einen kleinen Wald übergroßer Kerzen errichtet hatte - assoziativer Tribut an den religiösen Background des Sujets.
Mitterer (1958 in Tirol geboren) fand seinen Stoff beim Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe und dessen dramatisierter Verarbeitung der Vorgänge um die berüchtigte "Bartholomäusnacht", den Massenmord der französischen Katholiken an den Protestanten. Als dessen treibende Kraft sieht Marlowe den Königsberater Guise, den er zu einem Monstrum dämonisiert, dessen sich der König (Henri IV.) am Ende erfolgreich entledigt. Doch was bei Marlowe noch als Akt politischen Reifwerdens erscheint, ist in Mitterers (und Schloemers) Theatralisierung kritischer und bitterer gesehen als Endpunkt einer perversen Parabel, in der sich absolutistische Macht selbst bestätigt.
Mitterer lässt allerdings auf weite Strecken das Historiendrama beiseite. Fast zwei Drittel der anderthalbstündigen Szenenfolge ergehen sich in ritualhaften Verrichtungen von splendider Blutrünstigkeit. Man erlebt so etwas wie die Wiederkehr des Wien er Orgien/Mysterien/Theaters von Nitsch und Muehl. Peinigungen, Folterungen, Verstümmelungen aller Art werden zelebriert als Schwarze Messen in einer ebenso von religiösem Wahn wie von sexueller Wollust aufgeladenen Atmosphäre. Sades der totalen Verfügbarkeit freigegebene Körper erscheinen hier nicht als Ausgeburten aufklärerisch-rationalistischer Phantasmen, sondern, ähnlich wie in den Goyescas, als Obsessionen aus den Verliesen der Heiligen Inquisition.
Weit weg von der Abbildung massenhafter Pogrome, entfaltet sich das Bühnengeschehen als kammertheatralische Etüde für eine Kleingruppe, in der Täter und Opfer in ihren Rollen wechseln oder absichtsvoll unscharf gehalten sind. Plausibel, dass auch der Erz-Henker Guise sich genießerisch in die masochistische Position des Hündisch-Passiven und Geschundenen begibt. Schloemers vehemente Darstellung lässt die Akteure nicht immer individuell hervortreten; oft verschmelzen sie in orgiastischen Exzessen zu raffinierten Körperarchitekturen. Grausamkeit als Movens verquerer gruppendynamischer Prozesse, in denen es kaum ein Innen und ein Außen gibt. Auch der König beteiligt sich an ihnen - erst am Schluss ein transzendenzlos Einsamer, in eisiger Ironie mit seiner Isolierung (zigartettenrauchend) posierend.
Gleichwohl wirkt die Struktur von massacre problematisch und unrund. Die Anteile blutsäuferischer Ritualhaftigkeit und (wie auch immer rudimentärer) dramatischer Narration wachsen nicht zusammen. Die spät "nachgeholte" Erzählung sitzt dem mit Sadescher Akribie erfüllten "Mordspektakel" wie ein Buckel auf. Da tut sich auch Mitterers Musik schwerer als vorher. Sie wurzelt kaum im Dramatischen, Dialogischen, hat ihre besten Momente dagegen im unmittelbar Zuständlichen, in der grellen und rabiaten oder auch erstickten Imagination von Extremsituationen.
Bei aller Stilisierung hat die Stimmbehandlung insofern etwas Realistisches, als sie sich aller Kantabilität entledigt, in aberwitzigen Lagen schreien, brüllen, quieken, winseln lässt. Am "normalsten" artikulieren sich noch der brutale Bariton Georg Nigl als Guise und der gleißende Countertenor Alexander Plust als König. Drastisch geführte Sänger und Akteure: Annette Stricker, Katia Plaschka, Bettina Pahn, Ingrid Weisfeit, Sebastian Rowinsky, Jodi Melnick, Kuo-Chuan Wang. Mitterer geht so bewusst und gekonnt mit Live-Elektronik um, dass keinerlei dramaturgische Reibungen oder Bruchstellen entstehen. Mit nur neun Instrumentalisten im Orchestergraben (darunter Klavier und Cembalo) entfesselt er ein Pandämonium exorbitanter und vielfach unter die Haut gehender Geräuschhaftigkeiten.

Hans-Klaus Jungheinrich