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Nürnberger Nachrichten, 12. Februar 2002

Tanz, der wie Gesang klingt
Verführerische Klagebilder: Joachim Schloemers bewegende Choreografie "Les larmes du ciel" in Berlin

Die Sängerin zittert, unfreiwillig und unkontrolliert. Man hat sie wie eine Statue halb liegend mit dem Ellenbogen auf einer schmalen Stütze drapiert. Doch die Kraft, sich so aufrecht zu halten, reicht. Nur für den Moment. Dann rebellieren die Muskeln gegen die Überspannung und ihr Körper fällt hart und flach auf den Boden. Fast unhörbar wird der Zusammenbruch ein Ton: "Cara sposa, amanta cara, dove sei?" Gefährtin, teure Geliebte, wo bist du? Die barocken Klagelieder erzählen wie hierin Händels "Rinaldo" von Verlorenem, Vergangenem, nur mehr Erinnertem. Die Emotionen verdichten sich unter dem musikalischen Brennglas.
Joachim Schloemer, einer der renommiertesten deutschen Choreografen, hält schon lange Zwiesprache mit der alten Musik. Sein monumentales "La guerra d'amore" -Projekt nach den "Canti guerriere" (Kriegsliedern) und I den "Canti amorosi" (Liebesliedern) von Claudio Monteverdi gastierte 2000 beim Berliner Theatertreffen. Tänzer und Sänger standen gemeinsam auf der Bühne. Nach Chefposten an den Theatern von Ulm, Weimar und BaseI und nachdem er lange als Kandidat für das seit Jahren umgehende Berliner Hirngespinst "BerlinBallett" gehandelt wurde, arbeitet Schloemer seit kurzem wieder freischaffend. In diesem Jahr bringt der ehemalige Absolvent der Essener Folkwangschule am Staatstheater Stuttgart Monteverdis "L'Orfeo" heraus, zuvor aber "les larmes du ciel" (Tränen des Himmels), koproduziert vom Luzern Theater und dem Berliner Hebbel Theater, wo auch die Deutsche der Erstaufführung zusehen war.
Eine helle Mauer begrenzt die Bühne, in der Mitte umschließt eine halbrunde, im Schnürboden verschwindende Röhre einen Raum im Raum. Ein Ort der Konzentration? Zuflucht? Oder Gefängnis? Alles zugleich. Zwei Tänzerinnen, ein Tänzer und die Mezzosopranistinnen Marisa Martins und Anna Radziejewska leisten, begleitet vom Colleqium Musicum Köln unter Attilio Cremonesi, Trauerarbeit. Während eines Händel-Duetts verschlingen sich die Körper zu Tableaus, in denen extreme Empfindungen zu Zeichen gefrieren: Hass, Angst, Begierde, Erstaunen.
Schloemer hat gelernt. Anders als in "La guerra d'amore" verzahnt er Gesang und Tanz zwanglos miteinander. Flankiert vom Strom innerer Bewegung als fundamentalem Lebensantrieb und den Lamenti als zu Abdrücken erstarrten Momenten, entsteht eine berührende Zwischenwelt, die zahllose und im Einzelnen ganz unspektakuläre Tanztheaterbilder erfüllen. Das Spektrum zwischen Implosion und Ausbruch wird choreografisch ausgelotet, immer wieder; der Abend entfaltet seine Stärke in der Ruhe, mit der pathetische und unpathetische, sinnliche und unsinnige Empfindungsskizzen aufeinander folgen.
"Lasst mich sterben", fleht Monteverdis Ariadne, "und wer, meint ihr, könnte mich trösten in meinem so harten Los, in meiner so großen Pein? Lasst mich sterben." Die klagende Stimme verführt sich selbst zum Leben, das ist das Geheimnis der Lamenti. Joachim Schloemer lüftet es behutsam und verführt zu seinem Theater der klingenden Körper.

Constanze Klementz