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Salzburger Nachrichten, 14. Mai 2001

Exerzitien mit Artaud
Während das Burgtheater beim Theatertreffen in Berlin mit vier Produktionen reüssiert, schont es sich auch zu Hause nicht. Im Casino rinnt der Schweiß.

Während die Zuschauer noch ihre Plätze suchen, wird auf der Bühne des Burgtheater-Casinos schon körperliche Schwerarbeit geleistet Fünf Schauspieler und zwei Schauspielerinnen steppen sich durch ein endloses Fitnessprogramm. Rinnen muss der Schweiß, soll das Werk den Meister loben: "Die Nervenwaage", ein Stück zu Antonin Artaud, zwingt die Akteure zu einem sehenswerten physischen Marathon. Heftige Ringkämpfe, diffizile Partnerübungen, ausladende Märsche, anstrengende Standübungen strapazieren auch die Bühne. Die Wände sind extra wattiert, um die zahlreichen Bandagen auszuhalten.
Gerade das körperliche Spiel zeigt viel Humor, während die einzeln als Vortrag oder im Staccato der Gruppe gesprochenen Texte den mythisch überhöhten, von viel Leiden durchzogenen existenziellen Anspruch des Meisters bezeugen. "Sein ganzes Werk war ein Schrei", heißt es da einmal.
Antonin Artaud (1896-1948) ist eine Legende, eine Schlüsselfigur für das reine, totale Theater, als Theoretiker der Körperlichkeit und der magischen Verzauberung von eminenter Bedeutung für viele Dramatiker (lonesco, Beckett) und Regisseure (Peter Brook). Als Schauspieler, Regisseur und Autor sorgte er zusammen mit Alfred Jarry für die Umsetzung der surrealistischen Ziele im Theater. "Theater der Grausamkeit" war seine Losung: Grausamkeit nicht im Sinne von Gewalt, sondern der Unmittelbarkeit der grausamen Erfahrung und elementaren Selbsterkenntnis.
"Die Nervenwaage" ist eine zauberhafte, poetische, vielfach gebrochene Hommage an Artaud, mit Ausschnitten aus seinen fantastischen Erzählungen, mit Fragmenten seiner poetischen, kraftstrotzenden Gottsuche, mit Verweisen auf seine extremen psychischen Befindlichkeiten, seine enge Schwesterbeziehung und die zum Zerreißen gespannte Leidenschaft für die Schauspielerin Génica Anthanasiou. Wer Artaud nicht kennt, bekommt hier eine Ahnung von seinen transrationalen Denkwelten.
Wie es Artaud entspricht, ergibt die von Joachim Schloemer eingerichtete Aufführung allerdings kein rundes Porträt, sondern konfrontiert die Zuschauer mit einem lockeren, assoziativ geordneten Sprachmaterial, das immer wieder auf jenes Material zurückführt, das für Artaud Ausgang und Urgrund jeden Theaters war: den Körper, die Dinge, den Raum.
So gesehen ist "Die Nervenwaage" eine Art Einführung ins Theater, vom Bühnenbildner Jena Kilian verpackt in eine kabarettnahe Hülle, von den Schauspielern (mit Hanspeter Müller, Adrian Furrer und Edmund Telgenkämper als bewährten Stützen) kraftvoll und charmant in Szene gesetzt.

Alfred Pfoser