Foto

Frankfurter Rundschau, 23. Mai 2001

Körperklatsche
Eine Artaud-Séance in Wien

Irgendwann an diesem Abend fällt sogar der Name Artaud. Dann brandet bedrohliche Musik auf, und die sieben verschwitzten Akteure hetzen durch den kahlen Raum - klatschen von einer Wand zur nächsten, während zwei weißgekleidete Statistinnen mit Riesenfächer und Räucherstäbchen gemächlich von links nach rechts schreiten und man für einen Moment daran denkt, wie sehr das balinesische Theater den zu Lebzeiten gescheiterten Bühnenrevolutionär Antonin Artaud faszinierte. Mit solcherlei direkten Verweisen auf Leben und Siechtum der einflussreichen Theaterlegende geht Joachim Schloemer in seiner Artaud-Seance im Kasino des Wiener Burgtheater allerdings äußerst sparsam um.
Dabei könnte er ins Volle greifen: Kaum ein Theaterdichter und -denker hat ein dermaßen theatralisches Leben geführt, wie der 1896 in Marseille geborene Sohn aus bourgeoisem Haus. Surrealist, Stückezertrümmerer, Radikalpoet, Kranker und Irrer: Artaud liefert den exzentrischen Stoff, aus dem die Träume von 1001 Theaternächten sind. Nicht umsonst sind im Namen des Visionärs, der die abendländische Bühnentradition verachtete und auf der Bühne statt dessen eine "Metaphysik des Wortes, der Gebärde, des Ausdrucks" imaginierte, seit seiner breiten Rezeption in den Sechziger Jahren viele Peinlichkeiten begangen worden. Das zu Tode zitierte "Theater der Grausamkeit" nahmen manch selbsternannte Jünger schlicht zu wörtlich: viel Blut, viele Schreie, entsetzlich malträtierte Körper.
Der Choreograf Joachim Schloemer geht dankenswerterweise einen gänzlich anderen Weg. Er illustriert nicht ein Leben, er kommentiert nicht die Werke, er stellt den Körper aus. Er übersetzt die Mühsal des Denkens in durchexerzierte Bewegungsabfolgen, er konterkariert die Selbstentgrenzung der Gedanken mit der höchsten körperlichen Disziplinierung.
One, two, three, four und sidestep. Jeder Aerobictrainer fände am Chor der sich gleichmäßig bewegenden Burgtheater-Spieler Gefallen. In der schmalen und etwas tristen Turnhalle, die Jens Killian ins Kasino baute, nehmen die fünf Männer und zwei Frauen immer wieder Aufstellung, um einen Sturmtrupp im Ungeiste Artauds zu formen, um Schmerzenssätze, Fußballkommentare und Mikrodramen zu intonieren. Sie sprechen von "Fußangeln im Denken", während sich ihre Leiber verrenken, sie beklagen die "gläserne Zerbrechlichkeit" ihrer Glieder, während diese abenteuerliche Formen annehmen. Der titelgebende Artaud-Essay "Die Nervenwaage", dessen Einzelteile anfangs als feine Tischakrobatik dargeboten werden, ist bei diesem Leidensstück in 17 Stationen Inspiration: Die Bestandteile des Körpers werden gewissermaßen auf die Waage gelegt.
Anders als weiland bei Einar Schleefs Sportstück entsteht daraus allerdings kein
Textkörper, der durch seine bloße Präsenz überzeugen würde. Bei Schloemer interessieren weniger die Wortwucht, als die kleinen, nicht immer glücklichen Übergänge zwischen der Gleichförmigkeit der Aktion und der Sprengkraft der Silben. Wie die am Tisch aufgestellten Bauklötzchen verschiebt der mehrjährige Basler Tanzchef, der diesmal ausschließlich mit Schauspielern arbeitet, seine disziplinierten Spieler zwischen den Texten. Und wenn am Ende der 90 Minuten ein Leidensbrief zitiert wird, während die Sprecher wie in Serie ihre Plätze tauschen, dann scheint die gedankliche Lebhaftigkeit in der Leblosigkeit der tapferen Spieler um so größer zu sein.

Stephan Hilpold