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Die Welt, 19. Mai 2001

Joachim Schloemers Artaud-Fantasie in Wien

Wie wenige sonst verkörperte er das Künstlerklischee vom wahnsinnigen Genie. Naturgemäß schwankt die Rezeption - mal neigt sie mehr zum Fall für die Psychiatrie, mal zum Kult. Längst sind darum Artaud und sein "Theater der Grausamkeit" in den Bezirk des Mythos aufgestiegen. Ein idealer Ort für Priester und Ministranten jeglichen Bekenntnisses: Im Dunkeln war und ist gut munkeln.
Joachim Schloemer, der Choreograf, und "Burg"-Dramaturg Stephan Müller gehen in Wien einen anderen, helleren Weg. "Die Nervenwaage", ihr "Stück zu Antonin Artaud", kann getrost auf Blut und Tränen, auf Genitalien und Gestammel verzichten. Nur der Schweiß, ohne den es keinen Preis gibt, bleibt unerlässlich.
Jens Kilian hat die Bühne des Kasinos am Schwarzenbergplatz zum nüchternen Kellerprobenraum umgebaut. In 17 klug komponierten Szenen verordnet Schloemer dem knappen Dutzend seiner Darsteller strenge Fettreduktion. Nicht durch Nulldiät, sondern
durch physische Höchstbelastung. Da wird bis zur Erschöpfung geturnt und "gewalkt", auch der beliebte Sport des Mimen-an-die-Wand-Werfens darf nicht fehlen. Doch das martialische Aerobic -die Mädels kommandieren, die Jungs gehorchen stampfend - hat mit Veralbern nichts zu tun. Die Regie nimmt bloß Worte Artauds buchstäblich ernst. "Alles muss haargenau in eine tobende Ordnung gebracht werden." - Momente präzise entfesselter Bewegung schlagen in plötzliche Starre um, in lauter abstruse, zuweilen poetische Tableaus. Der Abend gleicht einer einzigen Versuchsreihe: Wie lassen sich Artauds Texte, sein Rausch und seine Ekstase ohne Peinlichkeit theatralisch abbilden? Schloemers Mittel einer liebevoll ironisierenden Körpertanzsprache haben den Test tadellos bestanden. So erleben wir Seltenes: Tragikomische Akrobatik oder Die Geburt des Schreckens aus dem Geist des Lachens. Selbst die schwersten, finstersten Sätze des Schmerzengurus Artaud, zum Beispiel "Ich bin ein vollständiger Abgrund", beginnen hier vor Leichtigkeit zu leuchten.
Ausnahmsweise stimmt die Rezensentenphrase: Gerechtigkeitshalber ist niemand aus dem Ensemble namentlich hervorzuheben. Denn Intendant Bachlers "Junge Burg" bildet eine fabelhafte Truppe. Vor der Starriege des großen Hauses braucht sie sich nicht zu verstecken.

Ulrich Weinzierl