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Falter, 20/2001

Männer ohne Nerven

Es gehört zu den schwierigeren Unterfangen, sich im Theater mit Antonin Artaud auseinander zu setzen. Der Versuch, seine Theorien in die Tat umzusetzen, ist sowieso zum Scheitern verurteilt; auch die Stücke, in denen Schauspieler als Artaud große Wahnsinnsarien veranstalten, sind meist vergebliche Liebesmüh. Im Burgtheater-Kasino am Schwarzenbergplatz versucht der Choreograph Joachim Schloemer einen dritten Weg: Er schaut, was passiert, wenn man Texte von Artaud wörtlich nimmt und direkt in Körpersprache übersetzt.
Der Titel "Die Nervenwaage" zitiert einen Artaud-Text von 1925 und gibt das Thema vor: Hier werden sozusagen Nerven auf die Waage gelegt - was wiegts, das hats. Aus Artauds Schriften haben Schloemer und der Dramaturg Stephan Müller eine Versuchsreihe in 17 Szenen destilliert: In einem leicht surrealen Turnsaal-Bühnenbild (Jens Kilian) stellt das siebenköpfige Ensemble auf Zuruf Emotionen her ("Schöner Traum!", "Autoaggression!", "Lieb sein!", "Artaud!"), tritt es zum Ringkampf an oder formiert sich zum Gruppenbild à la Artaud ("Und jetzt einen existenziellen Blick einnehmen!"). Einmal versuchen die Darsteller -wie in einer bizarren Variation auf das "Scharade"-Spiel - in akrobatischer Interaktion mit einem Tisch Artaud-Sätze ("Ich bin ein vollständiger Abgrund") darzustellen; in einer stummen Szene lehnt ein Schauspieler bedeutungsschwanger einen Turnschuh an die Wand und beträufelt die Bühne weihevoll mit Wasser. Man sieht: Artaud wird hier nicht ganz tierisch ernst genommen. Und siehe da: Ohne Heiligenschein erscheinen die Texte auf einmal erstaunlich konkret und überraschend komisch. Für Artaud-Jünger muss der Abend die pure Blasphemie sein; für alle anderen sind es die 90 intelligentesten, witzigsten Theaterminuten, die es in Wien derzeit zu sehen gibt.

Wolfgang Kralicek