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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26 May 1996

Tänzer im Hochland
Nationaltheater Weimar bei den Wiesbadener Maifestspielen

[...] Unmerklich fast wird dabei jedes Bild in sein Gegenteil verkehrt. Denn der Tod ist allgegenwärtig im Hochland, das Laub, das die Tänzer immer wieder auf den Boden streuen, schon herbstlich eingefärbt. Die größte Einheit mit der Natur erreicht der Mensch dann, wenn er im Erdreich zu Staub zerfällt. Die größte Schönheit und Leuchtkraft erzielen die Tänzer, wenn sie sich plötzlich nicht mehr bewegen. Das ist ihre spezifische Art zu sterben.
Steile Linien, markante Winkel und eingedrehte Schräglagen - vieles an Joachim Schloemers Bewegungssprache erinnert an den deutschen Expressionismus, in dessen Tradition der Folkwangschüler, ehemaliger Gasttänzer bei Pina Bausch und designierte Basler Tanztheaterdirektor auch steht. Doch Schloemer löst die dramatischen Ausdrucksgesten aus ihrem Kontext und läßt sie zur Pose gerinnen. Er erfüllt ihre Rhetorik der Innerlichkeit, indem er sie bis in die Äußerlichkeit manieristischer Zeichen treibt. Scharf umrissen stehen die Tänzer wie eingefroren im Raum, ohne daß auf eine ausgestreckte Hand eine Berührung folgte, auf ein Winken eine Erwiderung. [...] Joachim Schloemers Choreographie überlagert das Alte mit dem Neuen, den Mythos mit der Gegenwart in der Zeitlosigkeit der Bühne. Aus bedeutungslos gewordenem Erinnerungsmaterial webt er einen Teppich menschlicher Verhaltensweisen voller versteckter Ironie und Emotionalität, die aus der Kälte kommt. Die 14 Tänzer verkörpern in den 20 Szenen des Abends keine wiedererkennbaren Figuren. Sie sind Chiffren einer neuen, noch unverstandenen Sprache. "Hochland oder Der Nachhall der Steine" ist ein höchst artifizieller Echoraum unserer eigenen Befindlichkeit, eine poetische Abraumhalde versteinert-verdichteter Bilder, die in der Phantasie Funken schlagen und lange nachwirken.

Gerald Siegmund