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Die Deutsche Bühne, 11/1995

Im Hochland der Tanzkunst
Joachim Schloemer ist der interessanteste Choreograph der jüngeren Generation - und der fleißigste: Wer kann schon mit 33 Jahren auf ein Werk von 40 Tanzstücken blicken? Seine neue Choreographie "Hochland oder Der Nachhall der Steine" war so etwas wie ein Durchbruch in Weimar.

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Auch sein neuer Tanzabend "Hochland oder Der Nachhall der Steine", im September uraufgeführt am Nationaltheater Weimar, könnte fremdartiger nicht beginnen. Wenn im Saal die Lichter erlöschen, bleibt es auf der Bühne lange dunkel. Dann beginnt unheimlicher Lärm. Ein Bergsturz? Als ob Felsbrocken auf die Erde donnerten. Langsam wird es hell - und traurig schleppt sich eine Dudelsack-Melodie über das Naturgeräusch. Nebelstreifen ziehen an einer Frau vorbei, die sich langsam von der Rampe in den Hintergrund der Bühne bewegt, wo ein Gewitterhimmel droht. Der Boden ist mit welken Blumen bedeckt. Darüber hängen fünf Leuchtröhren. wie sie ihr fahles Licht in die Straßenschluchten einer Großstadt werfen. [...] Wenn man der vorerst einzigen Gestalt auf der kahlen Szene zuschaut. Eine Tänzerin? In langem braunem Kleid entfernt sich Doris Lamatsch von uns. Die bloßen Füße stehen auf zwei Pflastersteinen. Wie kann sie sich so bewegen? Nur zu ahnen: Im Dunkel hinter ihr liegt auf dem Boden ein Tänzer und verschiebt die Steine im Rhythmus der langsam rückwärts schreitenden Tänzerin. Die wirkt mit dem kurzen Haarschnitt à la Bubikopf, je weiter sie sich uns entrückt, wie ein doppelgeschlechtliches Wesen in dieser Natur-Stadt-Wüste. Und schon wird der androgyne Zauber allgemeiner Lebensverwirrung gesteigert, wenn der erste Tänzer-Mann, der in die Szene springt, die Haare in einen Mozart-Zopf gebunden hat.
Ein rundum faszinierender Abend. [...]

Rolf Michaelis