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Süddeutsche Zeitung, 6. März 2003

Luxus und Pastell
Joachim Schloemer verrätselt für Basel Claude Debussys sowieso schon recht rätselhafte Oper "Pelléas und Mélisande"

Wer Joachim Schloemers Inszenierungen in Stuttgart gesehen hat - Wagners "Rheingold", Offenbachs "Hoffmann" und Monteverdis "Orfeo" - und sich an ihnen gerieben hat, den wird es jetzt nach Basel ziehen, wo Schloemer einst Tanzchef war und und Claude Debussys "Pelléas und Mélisande" herausgebracht hat, in einer spekulativen Versuchsanordnung fern von allem Narrativen.
Sie wird gefragt, wie alt sie sei und antwortet: "Mir wird kalt." Sie sagt: "Ich bin glücklich, aber ich bin traurig." Maurice Maeterlincks und Debussys Märchenwesen ist nicht zu fassen. Wir wissen nichts von dieser Frau. Nicht, woher sie kommt. Nicht, woher die Krone stammt, die ihr späterer Gatte Golaud unter keinen Umständen aus dem Brunnen bergen darf. Nicht, was ihr geschah, dass sie so schreckhaft ist. Auch ansonsten: Rätsel über Rätsel. Und die Basler Neuinszenierung setzt mindestens noch eins drauf, einen Kosmos der Andeutungen, schwer zu entschlüsseln.
Wer sich in Allemonde, diesem Ort der weinenden Seelen, nicht genau auskennt, hat es bei Schloemer und seinem Ausstatter Jens Kilian nicht leicht. Die Burg nimmt sich aus wie eine zur Seite gekippte Wanne, die auf einem Wald von Stäben zu schweben scheint. Dort hinein stößt Uraltkönig Arkel ein Opfer jener Hungersnot, die, im Lande herrscht. Dort kauern auch die Protagonisten als Liebespaar, während der Sadist Golaud seinen kleinen Sohn über die beiden ausforscht und Video-Einblendungen zeigen, was er mutmaßt.
Alle Sänger sind nahezu immer auf der Szene, Eingeschlossene in einer klaustrophobischen Situation. Wer nicht spielt, brütet in den Ecken vor sich hin. Die von Schloemer hinzuerfundene, die Rätsel mehrende Tänzerin kommt und verschwindet durch die Wannenwand, greift in die Handlung ein, fügt die Hände der Liebenden ineinander. Hermann Münzers beinahe magische Lichtkünste suggerieren die Tageszeiten, den Park und den Modergeruch unheimlicher Höhlen. Schloemer hält wenig vom Geschichten reportieren. Sie schiebt er beiseite, veralbert sie fast, wenn er statt des Brunnens einen handlichen Glasbottich hinstellt, in dem kein Ehering der Welt verloren gehen kann - das soll wohl sagen, dass es des Verlusts nicht bedurfte, um Peinigung, um Gewalt zwischen Golaud und Mélisande ausbrechen zu lassen.
Wichtig sind für den Regisseur die Psychen dieser Spätzeitlinge. Lauter Lügner, deren spitzfindig entdeckte Abartigkeiten bloßgelegt werden. Neben der Verführung Minderjähriger sind es der offensichtliche Brudermord und der vermutete Inzest Golauds mit seiner Mutter Geneviève und ganz schlimm treibt es der sonst so grundgütig-salbungsvolle Greis Arkel: Weder Mélisande noch Urenkel Yniold werden verschont. Choreographisch gezirkelte Variationen über eine Oper sind das, mal konfus elaboriert hier, mal spannend.
Diese Hirninszenierung bräuchte die starke Mit- und Einsprache der Musik. Doch gerade dies leistet der japanische Gastdirigent Tetsuro Ban nicht. Zwar dirigiert er vorzüglich und das Sinfonieorchester Basel reagiert ohne jeden Makel, doch es ergibt sich nur ein erlesenes Pastellmusizieren, schwebend oft, von feinster Wirkung, größter Delikatesse. Gleichwohl, Ban versteckt die Musik, belässt es beim luxurierenden, bisweilen auch fast unhörbaren Klangteppich. Kaum eine Spur von Debussys dramatischem Auflodern nach dem Mord an Pelléas, von dem stechenden Lichteinfall nach der drückenden Höhlenfinsternis. Schon gar nicht das in seinen Instrumentalsträngen freigelegte Klangbild, die Konturenschärfe, mit denen Boulez, Abbado oder Gielen das Gerücht vom verschwimmenden Impressionismus verabschiedeten. Maya Boogs bietet einen zierlichen, dabei durchaus herben Mélisandensopran und die beiden Baritonisten, den eingesprungenen und für seinen stumm agierenden kranken Kollegen vom Bühnenrand aus singenden Bernd Valentin als in der Höhe firmer, lyrisch-bestimmter Pelléas und Andrew Murphy als im rasenden Zorn kompakter und in der Reduktion sensibler Golaud.

Heinz W. Koch