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Die Zeit, 24. April 2003

Im Echoraum der Symbole
Zwei Visionen derselben Oper: Debussys "Pelléas et Mélisande" in Basel und Hannover

Freizeitwonnen am Atlantik. "Ich komme grad vom Meer herauf", singt Pelléas, der kurzhaarige Bodybuilder im nassen Surfanzug. Sorgloser Spross steinreicher Eltern ist er, zwischen zwei Surfgängen will er mal ein Auge auf die junge Frau werfen, die sein Bruder da mitgebracht hat - Mélisande. Mutter, die wehende Kleider aus der Eine-Welt-Boutique trägt, lächelt milde und cremt ihm die Waden ein. Kaum ist sie weg, flirten die jungen Leute in Rätseln. Singen von einem Brunnen, obwohl sie im Korridor einer Avantgardevilla stehen, und von einem Ring, wo keiner ist. Als spräche eine alte Geschichte aus ihnen.
Fünf Zugstunden sind es von der Oper Hannover zum Theater Basel. "Ich komme grad vom Meer herauf", singt dort ein langhaariger Dichter in schwarzer Jacke. Er hat Notizen gemacht. Dass er selbst Pelléas ist, wird ihm offenbar erst allmählich klar wie allen anderen auf der Bühne. Sie tasten sich in die Geschichte hinein wie Menschen, die sich an etwas erinnern. Zögernd nur sind sie erschienen in und um ein riesiges türkisfarbenes Bassin, dessen offene Seite nach vorn gekippt ist. Eine Frau bringt Decken für ein frierendes Paar, von dem sie noch gar nichts wissen kann. Halb träumend, halb nüchtern geht es zu, als brüte da ein Autor über seinem Material.
Kein größerer Gegensatz ist denkbar zwischen den beiden jüngsten Inszenierungen von Claude Debussys einziger Oper Pelléas et Mélisande. In Hannover zieht sie als genau beobachtete moderne Milieustudie vorüber, in Basel folgt sie der Traumlogik. Fast gleichzeitig hatten sie Premiere im 101. Jahr nach der Pariser Uraufführung. Damals war Pelléas ein Rittersmann mit Strumpfhose und Bauschärmeln. Schließlich spielt Maurice Maeterlincks Dichtung in einer Märchenzeit, in altem Schloss mit feuchten Grotten, abgekehrt vom Licht des nahen Meeres. Doch am andern Ufer dieses Meeres erkennt man schon den Schreibtisch von Sigmund Freud. Ein ins Wasser geworfener Ring kann da in erotischer Vieldeutigkeit Wellen schlagen und die Atmosphäre verändern. Das Korsett des 19. Jahrhunderts sprengend, entfaltet das Libretto Seelenvorgänge im Echoraum der Symbole. Es ist eine simple Geschichte: Mann heiratet Frau, die sich, bereits schwanger, in seinen Bruder verliebt, den er daraufhin erschlägt. Sie stirbt an der Geburt ihres Kindes. Und es ist eine komplexe Geschichte, in der jedes Wort Symbol für anderes sein kann. Mélisande: "Ich sehe eine Rose in der Dunkelheit ..." Pelléas: "Wo denn? ..." - "Weiter unten, weiter unten im Garten, dort, im dunklen Grün." - "Das ist keine Rose ... ich werde nachsehen ..."
In Hannover ist diese Rosenszene ein Memory-Spiel. In der strahlend weißen Villa, die Kazuko Watanabe gebaut hat, knien Pelléas und Mélisande am Boden, Kärtchen aufhebend. Es ist, als würde das Geplänkel eines flirtenden Paares im 21. Jahrhundert simultan ins Abgründige übersetzt - bis dann Pelléas, eine Karte betrachtend, ruft: "Das ist keine Rose!" und sich die Szene mit dem Text wieder wörtlich deckt. Die Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito können mit diesem Schwanken umso virtuoser spielen, als ihr Familienporträt von bestechender Präzision ist: Wie da heile Welt gespielt wird, während schon Eifersucht giftet - beklemmend. Chef der Beletage ist Arkel, jeanstragender Althippie mit Haschpfeife, unendlich tolerant, der milde zur dräuenden Katastrophe lächelt. Ihr Vollstrecker Golaud (Oliver Zwarg), Mélisandes Gemahl, ist ein Hüne im Anzug, dem die verdrängten Gefühle in Hand und Bein zucken. Bedrohlich klingt er, doch weich und anrührend auch. Sein Bruder Pelléas (Will Hartmann, dessen Tenor genauso gut sitzt wie sein Muscle-Shirt), betet naiv seine Traumfrau an. Alla Kravchuk gibt eine wunderschöne Mélisande, singt Töne wie aus einer frischen Quelle und schaut, als Einzige von ungeklärter Herkunft, mit Staunen auf die Ereignisse.
In Basel dagegen gibt es keine Milieustudien, keine Analyse. Die Männer tragen Arbeitsschürzen wie in einem Handwerksbetrieb, vielleicht verarbeitet man Fisch oder Holz, aber zu sehen ist immer nur dieses seltsame, aufgeständerte Bassin, entworfen von Jens Kilian, durch dessen Wände ab und zu wie ein Geist eine Tänzerin schlüpft. Sie bewegt sich mit kommentierenden und beschwörenden Bewegungen zwischen den Personen und den gelben Säulen, die in den Raum ragen oder auf ihm lasten, während die Nacht "dick wie vergifteter Teig" ist. Vom provisorisch und werkstattartig tastenden Beginn gelangt man mit dem verliebten Paar zu einer Kinderwahrnehmung der Welt. Pelléas und Mélisande begeben sich einmal, den verlorenen Ring suchend, unter den großen Kasten, wo schon andere Gestalten herumrobben, in Decken gehüllt wie Kinder, die unterm Bett Monster spielen. Da kauern sie beide nun, geborgen und gespannt, im fahlen Halblicht und in Debussys weitreichender Musik. Und plötzlich sieht man die Welt wie früher: Wie seltsam und ledern die Erwachsenen dahinten im Schatten stehen! Wie unbegreiflich deren Planen und Gesetz, wie köstlich die Gewissheit, ihnen heimlich davonfliegen zu können. Schloemer spielt in solchen Momenten mit der Fantasie des Publikums und öffnet sie wie eine angelehnte Tür. Auch, weil die Sänger in diesem Ungefähr starke Identitäten haben. Der alte König Arkel, vom jungen Konstantin Gorny gesungen, ist ein zwischen Tyrann und Tröster aufgespaltener Charakter. Golaud (Björn Waag und Andrew Murphy) wird getrieben von seinem Eifersuchtsdrang, der (eingesprungene) Pelléas von Gérard Thérvel ist ein Abwartender, der in Liebe aufgeht, sobald sie ihn erfasst, während Maya Boogs Basler Mélisande herbe wirkt.
Am Ende, als Mélisande gestorben ist an der Geburt ihres Kindes und am Verlust ihres Geliebten, kommt die Tänzerin wieder und legt Decken über alle, auch über die Überlebenden. Das hat etwas Magrittehaftes und Tröstliches zugleich. In Hannover wird die Tote in ein Seitengelass gerollt. Der Clanchef und Golauds Mutter stehen dann mild lächelnd vor dem gläsernen Brutkasten mit der Frühgeburt. Die Gelassenheit dieser Alten erweist sich als brutale Unverbindlichkeit, ihre Toleranz als Kälte. Golaud lächelt mühsam mit.
An Schärfe und Schlüssigkeit ist die hannoversche Produktion nicht zu überbieten. Doch dem Unfassbaren in Glück und Grauen begegnet man in Basel. Und hier wie da staunt man über die unendliche Integrationskraft der Partitur. Auch wenn sie sich transparenter spielen ließe, als beide Orchester das tun, ist das doch konzentriert und intensiv: Die Basler unter Oskar Sallaberger arbeiten mit kammermusikalischem Impuls, schnell reagierend, und eher trockenem, objektivierendem Klang. Die Hannoveraner unter Shao-Chia Lü, luxuriöser und blühender, lassen gelegentlich an Wagner denken. Doch immer vereint die Musik, was in der Luft und um die Seelen dieses Dramas liegt, zu einem so stabilen wie flexiblen Gebilde. Sie ist auf alles vorbereitet. Ganz gleich, ob Pelléas nun Surfer oder Dichter ist - diese Töne machen ihn wahr.

Volker Hagedorn