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Die Welt, 5. März 2003

Das Unglück liegt hier im Drei-Sterne-Gefrierfach
Heißkalt: Jochim Schloemer inszeniert in Basel Debussys "Pelléas et Mélisande" als somnabules Traumspiel

Von allen traurigen Opernmärchen ist Claude Debussys auf Maurice Maeterlinck zurückgehende, nun auch schon 101 Jahre alte Geschichte von "Pelléas et Mélisande" das traurigste und märchenhafteste. Meist still, nur selten aggressiv leiden die zeitlos dämmernden Bewohner des symbolhaften Schlosses Allemonde vor sich hin. Hinter und neben ihnen lauter Tote, Kranke und Verschwundene, Gatten, Söhne, Großmütter. Und auch über der seltsamen, keusch sich entwickelnden Liebe zwischen Pelléas und Mélisande, der im Wald aufgelesenen zweiten Gattin seines Halbbruders Golaud liegt kein Glück. Passiv erträgt man, lässt sich morden, legt sich hin zum Sterben ohne Ausweg.
Es gibt keine andere Oper, wo die Atmosphäre des Dahinfließens, der nicht fassbaren Schicksalhaftigkeit, der beinahe totalen Resignation so sehr vom ersten bis zum letzten Ton ein charakteristischer Klang geworden ist, wie in diesem nur scheinbar entrückten Dreiakter über die Krankheit des 20. Jahrhunderts. Tetsuro Ban führt das trennscharf musizierende Sinfonieorchester Basel entsprechend kühl und rasch durch die Verästelungen dieser Partitur. Kein sentimentales Zucken, kein Schluchzen gönnt er sich. Alles ist Analyse, jede Regung wird tönend seziert, emotionslos als Klang vorgeführt.
Klar und ohne Geheimnis gibt sich auch die Baseler Inszenierung von Joachim Schloemer, der erstmals an die Stätte seiner letzten Ballettdirektion zurückgekehrt. Jens Kilians Einheitsraum ist ein teichgrüner, auf Stelzen schwebender Kasten, mit abgerundeten Ecken, in den kahle Rundhölzer als Waldersatz gerammt sind. Ein Drei-Sterne-Gefrierfach des Unglücks, in dem jede Liebe und jedes heiße Gefühl sofort erkalten müssen. Distanziert marschieren die Handelnden in ihren strengen braunen Wickelröcken herein, beginnen fast aktionslos ihr Opernspiel. Erst ab der dritten Szene, der ersten Begegnung zwischen Pelléas (für den kranken, aber spielenden Vincent Karche singt weich schmelzend von der Seite Bernd Valentin) und der verhuschten, als einzige in einem weißen Kleid sich duckenden Mélisande (zart und mit schimmernd intensivem Sopran: Maya Boog), sind alle im Kasten versammelt und bleiben auch weiterhin auf der Szene, wenn sich nicht direkt an der Aktion beteiligt sind.
Schloemer entwickelt langsam und subtil sein Beziehungsgeflecht. Der gar nicht so weichherzige Stammvater Arkel (Konstantin Gorny) verschafft sich seinen Willen, von seiner Tochter Geneviève (Rita Ahonen) kaum gehindert, bisweilen mit roher Gewalt; ihm schlägt sein Enkel Golaud (Andrew Murphy) direkt nach, wenngleich der von Selbstzweifeln gepeinigt wird. Keine Beziehung ist für ihn sicher. Zum Eifersuchtsmord an seinem Halbruder muss er sich erst wie ein Krieger ritualhaft die nackte Brust mit Lehm beschmieren. Unschuldig ist hier nur sein kleiner Sohn Ynold (Nuria Rial), den er als Spion missbraucht. Eine Tänzerin (Alice Gartenschläger), die plötzlich hinter dem Bäumen auftaucht, versucht vergeblich, die Figuren einander nahe zu bringen, offenbart sich schließlich als jenes, bald als Halbweise aufwachsendes Kind Mélisandes, das - vielleicht, falls es überlebt - für Hoffnung in diesem Totenhaus stehen mag. Die magisch leuchtenden Stämme machen den Raum zum Käfig.Gläserne Aussparungen im Boden dienen als Lichtinseln, Luken, Fenster, Quelle, Brunnen. Ist klar, wie fatal sich das Liebespaar einander ausliefert, sinkt der Kasten unter einem unerträglichen Gewicht halb in den Boden. Später hackt und knabbert man wie als Übersprunghandlung an und auf Kohlköpfen herum, Projektionen zeigen verschlungen Hände und das springende Kind. Ein schönes, leicht gesungenes Sterben und Vergehen ist das.

Manuel Brug