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Neues Deutschland, 30. Mai 2007

Die Utopie ist tot
Zemlinskys »Traumgörge« an der Deutschen Oper Berlin

[...] Leo Felds Libretto für diesen Zweiakter mit ausführlichem Nachspiel erzählt die Geschichte Görges (was norddeutsch für Georg steht) und verarbeitet mehrere Gedicht- und Märchenvorlagen (u.a. von Heinrich Heine) zu einer jugendstilgängigen Märchenoper.

Mit einem träumenden jungen Mann, der aus dem Leben, das ihm zugedacht war, ausbricht, sich nicht wie vorgesehen verloben lässt, nach seinem Lebenstraum sucht und in der harten Lebenswirklichkeit »ganz unten« ankommt. Dort findet er zwar nicht seine Traumprinzessin, aber die als Brandstifterin verschriene Gertraud. Sie kann er im letzten Moment vorm Lynchmord durch einen Mob retten, der ihn selbst gerne als rhetorisch begabten Anführer vor seinen Karren gespannt hätte. Das Nachspiel dann ist so eine Art verklärendes Happy End. Görge und Gertraud sind geachtet und geehrt inmitten einer geläuterten Gesellschaft und Görge ist mit der Alterserkenntnis gesegnet, dass Gertraud seine Traumprinzessin ist. Doch wie die beiden sich da ansingen, das ist so, als wenn Tristan und Isolde überlebt hätten und zusammen alt werden würden. Dieses Nachspiel ist schwer erträglich und könnte in seiner hemmungslosen Verklärung zur tödlichen Falle für die Bühnenversion einer Oper werden, deren Ausgrabung sich allein schon wegen der Orchesteropulenz lohnt, die es in der Wagner- und auch Brahmsnachfolge durchaus mit Richard Strauss aufnehmen kann, und dabei zugleich in ihrer eigenen Originalität besteht.

Dieser Gefahr entgeht Regisseur Joachim Schloemer in Jens Kilians mit Rolltreppen bestücktem (Kaufhaus- oder Bahnhofs-)Unterge- schoss mit Lichtschacht und Seitengalerien, weil er konsequent gegen den inhärenten Märchenstrich inszeniert und damit den »Traumgörge« vor sich selber schützt. Schloemer treibt der Oper vor allem in diesem heiklen Nachspiel jeden noch verbliebenen Rest von Utopie aus. Ist für Görge, der im zweiten Akt das Stadium eines heruntergekommenen Aussteigers durchwandert, und dabei zynisch zu dem Fazit kommt, dass das Leben keinen Sinn hat, dass also Gott à la Nietzsche tot ist, so fügt Schloemer im Nachspiel die Erkenntnis hinzu, dass auch jede Utopie tot ist. So tot wie all die Familien, die sich da im genormten Familienlook zum Picknick um ihre Anführer versammelt hatten. Das ist eine im diffusen Zwischenlicht selbstgebastelte Gesellschafts- und Familienidylle in einer schrecklich schönen neuen Welt, die sich dann doch selbst erledigt.

Wenn sich hinter dem Glücksgerede der Beiden auf ihren Stühlen vorne an der Rampe der Vorhang für eine Weile schließt, sieht man gerade noch, wie die Männer plötzlich aufstehen, ihre Pistolen ziehen und auf ihre Familien zielen. Wenn dann der Vorhang noch einmal aufgeht, sind alle tot. Doch Görge sieht das nicht mehr, er geht wieder allein zwischen den Leichen umher, als wär's ein Waldspaziergang. Das atmosphärische Märchen von einst als bitterböse Endzeitvision von heute.

Schloemer hat den Subtext der Welt- und Wirklichkeitsflucht ernst genommen und so konsequent wie unaufdringlich in eine Gegenwart projiziert, die längst von virtuellen Parallelwelten und Absetzbewegungen in die computergestützte Scheinwelt des Second Live unterlaufen wird. Zemlinsky wird so zum Visionär. Die Deutsche Oper hat diese Ausgrabung aber nicht nur szenisch ohne jede geschwätzig historische Patina (wie jüngst im Falle von »Germania«), sondern auch in einer beachtlichen musikalischen Qualität hinbekommen. Jacques Lacombe spielt souverän mit der Affinität des Orchesters zur spätromantischen Opulenz, lässt es zur Traummusik im ersten Akt so raffiniert und sinnlich flirren, dass Wagners Waldweben durchscheint, trifft aber auch den immer etwas unter emotionalen Hochdruck stehenden Parlandoton. Steve Davislim wirft sich mit ganzer Kraft in die mörderische Tenorpartie des Görge. Und Manuela Uhl ist nicht nur eine eindringliche Gertraud, sondern übernimmt in der Premiere auch gleich noch die (kleine) Partie der Traumprinzessin für die erkrankte Michaela Kaune mit. Markus Brück macht aus seinem Lohengrin-Auftritt als Hans in glänzender Rüstung unter all den schachernden grauen Anzugträgern im ersten Akt ein Ereignis. So viel lebensdralle, männliche Diesseitigkeit beeindruckt denn auch die ursprünglich für den Träumer Görge vom Vormund (Tiziano Bracci) vorgesehene Verlobte Grete (Fionnuala McCarthy) so, dass sie seine Braut wird. Auch das übrige Ensemble verdiente den Premierenjubel.
Die Buhs, die sich für den Regisseur darunter mischten, sind wohl unvermeidlich, wenn die Szene der Wirklichkeit auf eine so aufregende Weise nahekommt wie diesmal an der Deutschen Oper.

Roberto Becker