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Badische Zeitung, 18 August 2008

Reise in eine Wahntraumwelt
„in schnee“ – Joachim Schloemer lässt Bachs Cellosuiten mit Thomas Manns „Zauberberg“ zusammentreffen

Der Mann, der sich mit wehendem Wintermantel und verzweifeltem, fast irrem Trotz im schwarzbärtigen Gesicht durch imaginäre Schneemassen kämpft, soll nach dem Willen des Regisseurs C. genannt sein. Mehr ist nicht geblieben von Hans Castorp. C., wie er sich in Gestalt des ausdrucksstarken Tänzers Daniel Jaber auf der Bühne des nüchtern zweckmäßigen Luzerner Saals im so genannten KKL (Kongress- und Kulturzentrum Luzern) ruckartig wie ein stelzender Vogel den Weg zu bahnen versucht, könnte auch ein anderer sein. Auf jeden Fall ist er nicht dazu da, Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" zu illustrieren. Ein Träumer ist er, ein wilder, wüster, einsamer, verlorener Träumer - so, wie aber auch ganz anders als Hans Castorp, der im berühmten "Schnee"-Kapitel des "Zauberberg" an einer Hütte Zuflucht sucht und halb erfroren eine bukolisch-paradiesische Szenerie halluziniert.

Drei Stunden lang nimmt Joachim Schloemers neuer Tanzabend "in schnee", der am Wochenende beim Lucerne Festival uraufgeführt worden ist und ab Oktober auch in Freiburg zu sehen sein wird, den Zuschauer mit in eine Wahntraumwelt voller betörender, bizarrer, grotesker Bilder, voller absurder Episoden und merkwürdiger Begebenheiten, entrückter Schönheit und, am Ende, bedrückendem Stillstand. Doch es ist nicht der literarische Text allein, der den Leiter des Freiburg-Heidelberger Tanzensembles pvc und "Artiste étoile" beim Sommerfestival am Vierwaldstätter See inspiriert hat. Es sind vor allem die sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach, diese unvergleichlichen Kompositionen, dieses großartige Universum aus Tönen, das den Choreographen, wie er in einem Interview erläutert hat, in seiner "permanenten Aufeinanderschichtung in untere und obere Schichten" an die unausweichliche Gnadenlosigkeit des Schneefalls gemahnt. Dem einen wie dem anderen sei man ausgeliefert; man werde gefangen genommen; das habe etwas Grausames.

Sich neben der oder gegen diese Musik tänzerisch zu behaupten, ist eine außerordentliche Herausforderung. Aber wem, wenn nicht Schloemer, dem musikalischsten unter den zeitgenössischen Choreographen, wäre es zuzutrauen, sie zu meistern - wenn auch die selbst gesetzte Aufgabe, gleich alle sechs Suiten schultern zuwollen, fast als herkulisch erscheinen mag. Einem Cellisten allein war der musikalische Part jedenfalls offenbar nicht zuzumuten. So werden in Luzern aus einem Solisten deren drei: Sebastian Diezig, David Pia und Mattia Zappa entledigen sich des "Schichtdiensts" mit Bravour auf erstaunlich hohem Niveau - und als integraler Bestandteil von Schloemers Inszenierung, der dasCello mal mitten im Raum unter einer Leiter, mal auf einer Palette, mal an der Seite postiert.

Wo sind wir? In Castorps Schneehütte, im "Zauberberg"-Sanatorium, in einer Gletscherlandschaft, im wahnfantasierenden Kopf des Träumers? Wahrscheinlich überall zugleich. Am Anfang verdecken halbtransparente Vorhänge den Kubus, denMascha Mazur auf die Bühne gestellt hat.Darunter windet sich die Tänzerin Paea Leach ganz in Lila hervor, um in Daniel Jabers Mantel förmlich hineinzukriechen - und nicht nur in diesen: Sie schlingt sich unter sein elastisches Hemd (Kostüme: Gunna Meyer), verschmilzt mit ihm auf halb erotische, halb groteske Weise in einem Duo, das man so noch nicht gesehen hat. Atemberaubend.

Dann - zur zweiten Suite - fallen die Vorhänge, einer nach dem anderen, auf dem Holzpodest, das den Boden des Kubus bildet, werden rote Teppiche ausgerollt. Die Tänzer halten Schilder hoch: "Herzlich willkommen in unserem Haus" ist darauf zu lesen - und verkürzt "Komm zu uns". Richtet sich das an C. oder an die Zuschauer? Ein Mann ganz in Rot (Clint Lutes) quert mit einem Whiskeyglas in der Hand den Raum. Eine Seilspringerin (Su-Mi Jang) zeigt, was sie (nicht) kann. Eine strenge Zimmergouvernante (Maria Pires) trägt Kleidungsstücke vor sich her. Hier und da finden zufällige Berührungen, flüchtige Begegnungen statt, ein Untern-Teppich-Kriechen, ein In-sich-Zusammenfallen, ein Sich-Belauern.

Während der dritten Suite verdichtet sich das Fragmentarische der Einzelepisoden zum geschlossenen Bild: Fünf Stühle nebeneinander in der Diagonale zwingen die Tänzer zur Interaktion, während der für die elektronischen Klänge zuständige Musiker Thomas Jeker als glatzköpfiger Dicker mit verschiebbaren Bällen unterm engem Pullover sein Körperbild geradezu alptraumartig grotesk verformt. Schönheit und Schrecken liegen eng beieinander. Tänzerisch kommt es zum Höhepunkt des Abends: Wie das fünfköpfige Ensemble mit den Stühlen tanzt, wie die Tänzer darüber wegspringen und darunter durchtauchen, wie sie sich gegenseitig blitzschnell auffangen und wieder ablegen: Das besitzt hohe artistische Qualität. Mit der vierten Suite gerät die Inszenirung ins ruhige Fahrwasser traumschöner Harmonie: Maria Pires und Clint Lutes tanzen in absoluter Synchronie ein Duo, ohne sich je zu berühren: Man darf in dieser Szene die nächste Verwandtschaft zu Hans Castorps elysischem Schneedelirium sehen.

Danach - nach der Pause - stellt der Choreograph Schloemer seine Aktivität ein:Daniel Jaber hockt auf dem untanzbar gemachten Bühnenboden, per Video wird das fulminante Eingangsduo wiederholt. Der Traum ist vorbei, der Träumer verloren, dieMusik aber - in Gestalt der Suiten fünf und sechs - spielt weiter und weiter, nimmt den Raum mehr und mehr in Besitz; und, natürlich, besteht sie ohne die Bewegung, machtvoll und großartig. Dem inzwischen uniform gekleideten Ensemble bleibt nichts zu tun als Pappkameraden mit den Konterfeis seiner selbst aufzustellen; gespenstische und zugleich lächerliche Doppelgänger, stumm und bewegungslos, während Bach, dem Schloemer damit die Reverenz erweist, das letzte Wort hat. Eine grandiose Kapitulation.

Bettina Schulte