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Süddeutsche Zeitung, 16 January 2006

Die schönste aller Mozart-Wahrheiten
Der Startschuss für das Mozartjahr: Regisseur Joachim Schloemer wirft in Hannover einen gelassenen Blick auf die Treuetests in "Così fan tutte"

Das Mozartjahr auf Deutschlands Bühnen beginnt - mit Astronauten. Im Zeitlupentempo staksen vier dick eingepackte Gestalten, unbeeindruckt vom Gewirbel der Ouvertüre, in schummerig violettem Licht über die Bühne des Opernhauses Hannover und sammeln mit ihren Greifwerkzeugen die Hinterlassenschaften auf, die am Ende einer Aufführung von "Così fan tutte" herumliegen: Perücken, Schals, Sonnenbrillen. Den ganzen Mummenschanz, den die Ferrando und Guglielmo veranstalten, um ihre Miezen auf die Probe zu stellen, entsorgt Regisseur Joachim Schloemer kurzerhand auf den Müllhalden der Zukunft. Denn den emotional ausgekühlten Vertretern künftiger Generationen werden Mozarts Menschen, um die Erkenntnis ihrer Gefühle ringend, nur mehr vorkommen wie Dinosaurier - recht kraftvoll, aber in Zeiten des gesellschaftlichen Klimawandels nicht mehr überlebensfähig.
Dieser pessimistische, wenn auch eher halbernst gemeinte Vorgriff auf das Mozartjahr 3006 lässt sich als Schlüsselhinweis für Schloemers Verständnis von Mozarts Treue-Experiment verstehen: Der Sieg des Wissens über die Gefühle führt in die Isolation, und der Keim des Zweifels, den Mozart und Lorenzo Da Ponte anno 1788 säten, wuchert heute bei Houllebecq und Co.
So ist es konsequent, dass am Ende dieser "Così" weder eine Neuordnung der Partnerbeziehungen noch die Erkenntnis steht, dass Verzeihen eine Grundbedingung für die Liebe sein kann - sondern nur ein seltsam verstörtes Auseinanderlaufen aller Beteiligten. Mit dem gewonnenen Wissen zeigen sich die Menschen schlichtweg überfordert.
Eine Lösung im Sinne einer praxistauglichen Lebensmaxime ist das nicht, aber die will Schloemer auch gar nicht verkünden. Dem gelernten Choreografen geht es nicht um wasserdichte Konzepte und moralische Botschaften als um den (Bühnen-)Menschen und dessen unbedingte Glaubwürdigkeit. Statt [...] den lehrhaften Charakter dieser "Schule der Liebenden" herauszustreichen und die Figuren zu Bedeutungsträgern in einem abgekarteten Spiel zurechtzuschrumpfen, knüpft Schloemer direkt bei jedem der sechs Beteiligten an. Die Handlung wird zum Produkt des Aufeinanderprallens der Charaktere und entsprechend lässig behandelt. Auf Ausstattung und Bühnenzauber verzichtet er denn auch weitestgehend. [...]
In diesem gänzlich auf die Figuren zurückweisendem Minimalismus zeigt sich Schloemer dem Denken eines Michael Thalheimer, und, wenn auch in anderem Dekor, der "Così" von Patrice Chéreau verwandt. Das gleicht einem Paradigmenwechsel: weg vom Zwang, die Relevanz eines Stoffes in immer neuen Interpretationen oder aktualisierende Verpackungen zu suchen, zurück zu einem Grundvertrauen in die elementare Überzeugungskraft des Musiktheaters. Aber das liegt schon länger in der Luft.
[...] Francesca Scaini zum Beispiel münzt den dramatischen Hochdruck ihres Soprans nicht nur verblüffend stimmig in Fiordiligis Entrüstungsausbrüche um, sondern verkörpert mit geradezu physischer Eindringlichkeit die Qualen ihres Zwiespalts zwischen Pflicht und Gefühl. Dass sie ihre Partie hochschwanger absolviert, verstärkt nicht nur den moralischen Druck, der auf ihr liegt, sondern ist auch ein Umstand, mit dem die Regie beeindruckend locker umgeht. Oder Hilke Andersen, deren vollmundig-sinnliche Dorabella sogar einen gierigen Zug gewinnt, nachdem sie bei Guglielmo Blut geleckt hat. Ob der Guglielmo von Shigeo Ishino mit seinem großsprecherischen Draufgängertum oder Helge Rönnings Softie-Ferrando, der seine Fiordiligi mit entwaffnend unschuldigen Clownereien gewinnen will: bei allen weiß man in jedem Moment, wie ihnen ums Herz ist. Mehr noch, man glaubt ihnen ihre Verzweiflung und ihren Übermut, ihre Neugier und ihre Eitelkeiten - ihr Menschsein schlechthin. Und vielleicht liegt darin die schönste aller Mozart-Wahrheiten.

Jörg Königsdorf