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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16 January 2006

Und wenn ja, wer kriegt wen?
Kein Kindsvater für Fiordiligi in Joachim Schloemers traumhaft realistischer "Così fan tutte" in Hannover

Mozarts Opern werden einiges aushalten müssen in diesem Jahr. Wie gut, daß es sich auch bei "Così fan tutte ossia La Scuola degli amanti" um eine außerordentlich haltbare Ware handelt, die nicht so leicht kaputtgeht. Im Programmbuch der Staatsoper Hannover liest man wieder elaborierte Stichworte wie "Zeittunnel" oder "Petrischale". Schon Beethoven fand den Stoff dieser dritten Da-Ponte-Oper zu frivol, Wagner hielt das Libretto für mißraten. Und zahllose Umarbeitungen in der Vergangenheit haben bewiesen, daß die aufgeklärte Unmoral dieser "Schule der Liebenden" noch bis in die jüngste, promiskuitätswütige Zeit nicht recht abgegolten scheint.

Selbst die bedeutendsten unter den jüngeren Inszenierungen, diejenigen von Hans Neuenfels, Peter Konwitschny oder Patrice Chéreau, haken fest am Schluß: Ist das Experiment am offenen Herzen mißglückt? Stehen die verliebten Verratenen vor einem Gefühlsscherbenhaufen? Oder treibt es sie, da es sich nun einmal um ein "komisches Singspiel" handelt, wie der Theaterzettel bei der Wiener Uraufführung 1790 angab, doch am Ende wieder zu Paaren, und wenn ja, wer kriegt wen? In Hannover hält sich Joachim Schloemer nun wieder ganz einfach an die Botschaft der letzten Musiknummer: Vier Menschen gehen ihrer eignen Wege, traurig, aber wahr.

Schon beim ersten Ouvertürentusch hatte sich alle Erdenschwere der Exegese wie von selbst aufgelöst und schwebte samt Fußnoten wie eine Seifenblase in den Bühnenhimmel. Der stellt nichts weniger dar als das Weltall. In ferner Bläue staksen vier Astronauten herum. Je straffer der finnische Dirigent Mihkel Kütson, der so famos mit den Sängern atmen kann und mit seiner Mimik dem Orchester alle Farben vormalt, das Tempo anzieht, je schneller also Fagott, Oboe und Flöte ihre Purzelbäume schlagen, um so langsamer werden die Bewegungen der Raumfahrer, die ihre Bodenproben mit derselben souveränen Bedächtigkeit entnehmen, mit der auch die Mopshunde von Loriot sich einst den blauen Planeten eroberten. Der Mond ist flach wie ein Teller, der eingesammelte Mondmüll - ein Kruzifix, Perücken, Bilderrahmen - wird später im Spiel gebraucht werden. Als die Ouvertüre in die Zielgerade rast in klarem C-Dur, bricht weißes Licht aus, die multifunktionale Mondscheibe kippt in die Halbschräge und verwandelt sich in eine Revue-Plattform, drei junge Männer springen hinauf und singen gleich drei herrliche Terzette nacheinander. "Così" ist eine Oper, in der die Ensembles - Duette, Terzette, Quartette - mindestens so bedeutsam sind wie die Arien. Schloemer hat dieses intensive musikalische Miteinander in eine quecksilbrige Beweglichkeit verwandelt.

Alfonso, der seine Freunde zu Männerwette und Selbstaufgabe überreden will, singt die entscheidenden Sätze mit dem Rücken zu den anderen. Sie verstehen ausgezeichnet. Ferrando poliert Alfonso liebevoll die Stirnglatze, Guglielmo springt lustig in die Luft, triumphierend wird schließlich die leere Weinflasche an die Wand geworfen. Doch betrunken ist keiner der drei, allenfalls übermütig. Man sieht Despina (Cordula Berner) im Hintergrund kopfschüttelnd die Scherben zusammenkehren. Später wird sie den verführerischen Zauberwald, den Alfonso herbeizitiert, beiläufig entlauben und abtöten mit einem gezielten Zisch aus der Unkrautvernichtungsmittelsprühdose. Alle sind in dieser traumhaft-diesseitigen "Così" ständig zueinander unterwegs. Jeder einzelne tritt uns klar als ein Individuum vor Augen, in boulevardesker Eindeutigkeit gezeichnet und zugleich mit den Insignien großer Tragöden versehen. Nicht wie sonst so oft sind die Liebenden einander ähnlich wie Marionetten, was allenfalls erklärt, warum die Mädels nicht merken, welche Jungs sie gerade vor sich haben.

Schloemer setzt die tragikomische Musik wieder allseits szenisch in ihr Recht, indem er vier Menschen unterschiedlichen Charakters zeigt: Guglielmo, der Bariton, ist ein Proleten-Beau in Lederjacke mit virilem Charme und weichem Kern, Shigeo Ishino singt die Partie mit romantischer Standfestigkeit. Dorabella als seine geliebte Brosche in kurzem Faltenrock wird von Hilke Andersen mit dem Liebreiz eines nicht gar zu intelligenten Schulmädchens ausgestattet. Ferrando, der Tenor, ein blonder Jüngling, ist noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, aber auch nahe am Wasser gebaut - ein smarter Witzbold. Helge Rønning bringt für diese Partie nicht nur eine flexibel-lyrische Stimme, sondern beträchtliche artistische Grazie mit. Man begreift: Selbst eine felsenhafte Fiordiligi kann seinen Clownerien nicht widerstehen. Schließlich bietet er ihr sogar an, demnächst den Kinderwagen zu schieben. Denn die Fiordiligi der Francesca Scaini ist nicht nur eine prima donna assoluta, nicht nur tonangebende und stimmgewaltige Heroine von Walkürenformat. Sie ist auch echt schwanger.

Eleonore Bühning