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Mannheimer Morgen, 5. Oktober 2005

Nackt ausziehen und dann eingliedern
Mannheims Oper wagt mit "Passaggio/Tre Donne" einen gelungenen Blick zurück in die Zukunft

Welch tragische Zuspitzung: Die Frau im grünen Zweiteiler und BH ist außer sich. Sie trampelt. Sie schnaubt. Sie zetert. Und vor lauter Verzweiflung setzt sie sich mit gespreizten Beinen auf die Bühnenbretter und frisst sich den Frust mit fetter Schokotorte vom Leib. Speichel sprudelt. Sahne spritzt. Publikumsrufe werden lauter. Und als Gipfel dieser Unverschämtheit steht jenes schrille "Verpisst euch!", bei dem sich die Stimme der Operndiva überschlägt, mit dem der Klang versiegt und ein inszenierter Applaus losdonnert. Das Licht erlischt. Die Spannung fällt. Stille.

Der Kampf ist verloren. Das Individuum liegt am Boden. Allein. Deprimiert. Zerstört. Was von ihm übrig bleibt, sind Besitztümer. Pure Physis. Reines Material. Und die Masse triumphiert, weil sie es wieder einmal geschafft hat, einen einzelnen Menschen quasi nackt auszuziehen und ins System des gesellschaftlichen Korsetts hineinzuzwingen. Es ist die Macht, oder sollen wir sagen: Diktatur der Masse [...] Sie zwingt zur Anpassung. Uniformität.

Rund 40 Minuten dauert Luciano Berios "Passaggio" aus den Jahren 1961/62, das Joachim Schloemer als zweite Musiktheaterproduktion der Saison für das Nationaltheater Mannheim inszenierte und als Deutsche Erstaufführung derzeit im Schauspielhaus zeigt. [...]

Schloemer und sein Ausstatter Jens Kilian setzen auf Reduktion. Eine lange Neonröhrenbrücke von der Bühne aus quer durch den Zuschauerraum und eine große Schräge sind in diesem Teil des Abends alles. Dort agiert "Sie", das Individuum (dargestellt durch die Sängerin Deborah Lynn Cole), gegen die Masse der zwischen den
Zuschauern sitzenden Mitglieder des Chores B. [...]

[D]er zweite Teil des Abends: "Tre Donne", eine szenische Uraufführung, in der Schloemer drei Stücke von Berio (1925-2003) zusammenrafft und die Geschichte von "Passaggio" weiterstrickt. Auch hier führt er uns den einzelnen Menschen, die drei Frauen, als Gegenpol zu einer Masse vor, zu einer tumben Herde, die in einem Bühnenkasten hinter schalldichtem Glas in MTV-artigen Gruppentänzen und Massenhysterien rotiert. Ohne Emotion. Ohne Freiheit, Ohne Wille. Draußen aber die schroffe Gegenwelt. Hier herrscht die (vorübergehende) Freiheit des Einzelnen. Zu Berios Sequenzi IV für Klavier, VII für Oboe und III für weibliche Stimme leidet die erste Frau (Deborah Lynn Cole), tanzt die zweite (fantastisch: Maria Pires) und singt die dritte in einem Boxring (virtuos verführerisch: Sarah Maria Sun), in dem sie reißerische und aufreizende Geräusche fabriziert, mit Videokamera gefilmt und live auf die Theatermonitore übertragen wird. Ein eindrucksvoller Abend.

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Stefan M. Dettlinger