Opernnetz.de, 9. November 2007
Von Schönheit und Verhängnis
Wie wundervoll das war! Diesmal hat alles gestimmt. Und Zagroseks dritter Gluck-Abend legte sich um die beiden vorhergegangenen wie eine Klangdecke purster und doch lebenspraller, die spätre Bitterkeit schon ahnende Schönheit; da wurden alle Einwände, die ich mal bei mir hatte, sehr sehr klein. Und das gesamte Projekt erfüllte sich.
Für Glucks höchst selten aufgeführte Oper Paride ed Elena hat Joachim Schloemer die Perfektion der vorhergegangenen Alceste nicht nur durchgehalten, sondern jetzt stehen nicht mehr singenden Statuen auf der Bühne, sondern, wie im Orfeo, wieder Menschen (auch wenn sie sich, jedenfalls Erast, später als Amor zu erkennen geben). Und diese Menschen: was für welche!
Schloemer konzentriert sich diesmal ganz auf das emotionale Kammerspiel und wird dadurch zum durchweg ebenbürtigen Mitstreiter für Zagroseks Konzept der konzertanten Erzählung. Dieser Abend ist in genau gleichem Maß Oper wie Konzert. Man versteht nicht mehr nur, was beabsichtigt ist, sondern sieht, hört, ja riecht es. Helena (Ruth Ziesak) etwa, der repräsentativ-starren, wahrhaft königlichen, doch jungen Spartanerin, geht das Gezicke bis in die mit dem Bogen angerissenen Violinsaiten durch. Und Paris (Marius Brenciu in roten Leinenturnschuhen) schmelzt und schmelzt dagegen mit einer stimmlichen Schönheit an, dass kein Mensch im Publikum mehr begreift, weshalb diese Frau denn nicht hinsinkt... Das alles lässt Zagrosek sein Orchester mit deutlich dramatischer Wollust ausleben, und Schloemer hat für diese Liebesgeschichte mit dem furchtbaren Ausgang für eine ganze Völkerschaft eine solche Feingriffigkeit der Personenführung entwickelt, dass nicht ein einziger Moment von Zweifel aufkommt, geschweige dass auch nur irgend ein Durchhänger wäre, weder szenisch noch, sowieso, musikalisch. Selbst die kleinen Orfeo-Mätzchen, diese symbolistischen Handzeichen der ersten konzertanten Inszenierung, lösten sich unvermittelt, gleichsam nachträglich, in ein Zeichen zum Einsatz des Chores auf.
Auf der Bühne steht abermals der Kubus, nun aber bis auf die Rückwand geöffnet und diese ist mit dem lockenden Blau der Dämmerung bestrahlt. Der Kasten dient als Thronauftritt und dient auch als Podest - besonders der am Ende des Stücks drohenden Pallas Athene (irre: Celia Costea), aus der ihre Stimme und das Orchester eine herrische, nein frouwische Kassandra machen. Man hat den Eindruck, was Gluck und Calzabigi konventionshalber vom Mythos hinweggemindert, ja weggebogen haben, hole Zagrosek rein qua musikalischer Dramatik wieder in den Horizont dieser das gesamte Abendland bis heute bestimmenden Geschichte herein. Das tost, das gewittert, man hält sich an der Stuhllehne des Vordermannes fest. Das schmeichelt. Das wirbt. Und doch, man hört ja nur eine konzertante Aufführung, die, werden Skeptiker sagen, mit ein bisschen mit Szene gewürzt worden ist. Aber die sind auch nicht dabei gewesen. Sondern das hier gelungene Kunststück, nein -werk ist ein ganz inneres - eines, das überhaupt keine große Szene mehr braucht. Selbst die Gänge der Musiker durchs Orchester sind wie Choreografien in einem Grasmeer: nicht die Spur von Kulisse. Alle Standortwechsel der Protagonisten, die Handhabung kleiner Reliquien, etwa des Briefes, der Ruth Ziesak zugleich dazu dient, die Partitur mitlesen zu können, und dass Paris zu Beginn des fünften Aktes über sein Notenpult wie zusammengefallen ausharrt - alles das ist in ein Kontinuum aus Klang und Erzählung hineingenommen, einer Erzählung aus dem Geiste der Musik, die aus dem Konzerthaus Berlin eine eigene Welt machte, in die zum Schaudern aller plötzlich die Prozession des Chores eindrang: auch das wieder zugleich im Interesse einer sich ausweitenden, höchst beweglichen Klangbalance.
Zu Schloemers umfassendem Regiezugriff gehören selbst die den Sängern aufgestellten drehbaren Notenpulte, die es erlauben, sich einander zu- und voneinander abzuwenden, wenn der Affekt es verlangt; dann nämlich, und restlos glaubhaft, tut man es auch. Dazu gehört vor allem schon die Aufstellung von Paris und Amor (Jutta Böhnert) im ersten Akt: aus dem Publikum des ersten Ranges heraus, über die ganze Breite des Saals einander gegenüber. Wenn nämlich Paris den Amor dann ansingt, hat das schon viel von der langen Vergeblichkeit seines Werbens um Helena: der räumliche Abstand gibt einem das so sehr unter die Haut, dass man momentlang in Amor eigentlich schon Helena angesungen zu hören vermeint. Von derartigem Regie-Geschick ist der ganze Abend liebkost. Und davon, dass diese Sänger von dem Projekt durch und durch selber mitgerissen sind und ganz zu vergessen scheinen, dass sie durchaus auf keiner Opernbühne stehen. Hier wird, was Kierkegaard forderte: die Musik gelebt - egal nämlich, wie man aussieht, umgebogen: ob das Exterieur passt.
Auch Schloemer hält seinen identifizierenden Zugriff bis zuletzt durch. Und lässt das endlich vereinigte Paar, das er für den Schlussgesang des Chores schon von der Bühne gehen ließ ("Andiamo", "andiamo", und sie gehen einfach so weg, man fasst es erst nicht), noch einmal in den ersten Rang treten, angestrahlt, selig, aber stumm. Da hat man dann, während doch der Chor jubelt ("das Meer ist ruhig"; dabei ist einem immer noch diese Athene im Ohr), so seine Gedanken... dass sie zugleich bei den beiden sind, wie doch um die folgende Katastrophe wissen, ist eine der ganz großen Stärken dieser Inszenierung. Wer aber wissen möchte, wirklich wissen möchte, wie Zagrosek dirigiert habe, der höre sich alleine die Antwort der Oboe auf Paris' Vocalise an.
Und das Publikum? Je nun, es hat eine Art Erdrutsch stattgefunden. An keinem der beiden vorhergehenden Abende sah ich so viel Jungvolk. Gejubelt aber haben auch die Alten. Da ich dies hier schreiben wollte, konnte ich bis zum Jubelende nicht bleiben.
Alban Nikolai Herbst