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Cannstatter Zeitung, 13. April 2004

Erkundungen im Unendlichen
Salvatore Sciarrinos "Infinito Nero" und weitere Experimente im Forum Neues Musikheater der Stuttgarter Staatsoper

Durch einen Tunnel, wie in neolithischen Hügelgräbern betritt man die szenische Blackbox. Unendliches Schwarz, Schwärze der Unendlichkeit, "Infinito Nero" ist der Titel des neuen Projekts im Forum Neues Musiktheater, der Experimentierstätte der Stuttgarter Staatsoper im Cannstatter Römerkastell. Die Visionen der Mystikerin Maria Maddalena de' Pazzi aus dem 16. Jahrhundert, deren mündlich überlieferte Fragmente der italienische Komponist Salvatore Sciarrino für Mezzosopran und acht Instrumente als "Ekstase in einem Akt" bearbeitet hat, sind das Fundament des musiktheatralischen Abends über Dasein und Tod, Körper und Transzendenz.
"Die Seele verwandelt sich im Blut", heißt es im Text und Joachim Schloemer als Regisseur und Choreograph versucht, solche Existenzerfahrungen in der Auseinandersetzung mit Bewegung, Klang, Sprache und Raum erfahrbar zu machen. Rituale prägen den ersten Teil der szenischen Versuchsanordnung. Stumm sitzt das Ensemble auf dem Boden, während "Stardust" aus den Lautsprechern plätschert, man senkt Teebeutel in Wassergläser, legt sich flach auf Kommando und formiert sich neu. Dann kommt musikalischer Inhalt zur Performance.
Wie bei einem gruppendynamischen Experiment sitzen die Mitspieler im Kreis, lauschen den Atemgeräuschen, Tropflauten, dem Herzklopfen, das von den Musikern des Ensemble Recherche erzeugt wird. Sarah Maria Sun rückt in ihre Mitte, singt gemurmelte Worte, steigert sich stimmlich und körperlich in jene Vision vom Erscheinen der Unendlichkeit, die in Sciarrinos überwältigend stiller Klangsprache Resonanzen findet. Bis hierher ist dies eine vorwiegend konzertante Aufführung, auch wenn die Sängerin am Ende in einer Prozession durch den Raum getragen wird. Doch nun öffnet sich die Szene in musiktheatralische Dimensionen.
Körper und Instrumente werden wie bei Tatortskizzen mit Kreideumrissen verortet, die Musiker mit ihren Partituren an den Rand zwischen die Zuschauer bewegt. Während Sciarrinos 30 Minuten-Ekstase zum zweiten Mal beginnt, werden die Hohlformen mit einem Netzwerk von farbigen Kreidelinien verbunden. Das hat etwas klindlich Spielerisches, aber zugleich feierlich Symbolhaftes. Auf dieser Tabula rasa vollzieht sich erneut das Drama der Maria Maddalena de' Pazzi, ihre herausgestoßenen Eingebungen werden von ihren "Schwestern" und "Brüdern" begierig aufgezeichnet, ihr Körper wird von der Gruppe unter sich begraben und dann unter ihren Kleidungsstücken zur Ruhe gelegt. So gut man sich Sciarrinos nach Innen gerichtete Musik auch in einem ganz dunklen Raum, in tatsächlich unendlicher Schwärze vorstellen kann: Schloemers szenische Realisierung bewahrt ihre suggestive Wirkung. Und Sarah Maria Sun ist eine hoch präsente, eindringlich artikulierende Protagonistin.
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Dietholf Zerweck