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Neue Zürcher Zeitung, 31. Oktober 2001

Mehr Tanz
Ein Folkwang-Fest für die Urenkel von Kurz Joss

[...] Während die kopflastigen Körpertüftler der frankophonen Avantgarde den Tanz in den Gehirnwindungen zu verlieren drohen, scheint die deutsche Tanz-Intelligenzia die Lust am Tanz neu zu entdecken - das deutsche Tanztheater wird zunehmend tänzerischer, abstrakter, formaler.
So erinnerte Joachim Schloemers "15 - in fifteen seconds" mit den streng formalen Mustern zuweilen an die frühen Stücke der Rosas. 15 Sekunden haben sich die 25 Tanzenden gegeben, die es zu füllen galt, 15 Sekunden lang sind denn auch zahlreiche Sequenzen dieser Choreographie. Doch Joachim Schloemer wäre nicht er, würde er nur darauf bauen. So werden die Zeiteinheiten gedehnt, verdoppelt, verkürzt, während die Bewegungsphrasen - in verschiedenen Tempi wiederholt, zeitlich verschoben getanzt - die Zeiteinheiten aufzulösen scheinen und das Zeitempfinden der Zuschauenden zersetzen. Zu einer Collage mit Kompositionen von Modest Mussorgsky bis Iannis Xenakis und Aphex Twin durchmessen die Tänzer in schwarzen Anzügen und weissen Hemden mit langen Schritten den Raum, rennen um Kopf und Kragen oder schleichen als Tatzelwurm, die Bausch'sche Diagonale zitierend, der Wand entlang, bevor sich die Gruppe auflöst in verschiedene Gruppen, Phrasen, Tempi. Und dieses ständige zeitliche Verschieben der Phrasen, diese Gleichzeitigkeit verschiedener Aktivitäten in gleich bleibenden zeitlichen Mustern ergibt eine merkwürdige Polyrhythmik, die einen starken Sog entwickelt. [...]

Lilo Weber