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Neue Westfälische, 7 January 2005

Geerdet und zur Ader gelassen
Joachim Schloemer inszeniert "Tristan und Isolde" in Hannover / Gekonnte Annäherung, aber kein großer Wurf wie sein "Rheingold" in Stuttgart

Tönende Entgrenzung außerhalb jeder Norm, aus notdürftig gehemmten Gefühlswallungen zu höchster Liebeslust und zerstörerischem Todesverlangen - darin kommt Wagners "Tristan und Isolde" nichts und niemand gleich. In der Hannoveraner Neuproduktion erscheint dieser Ausnahmezustand um Eros und Thanatos auf durchaus nicht unmystisches Normalmaß gebracht, geerdet und zur Ader gelassen.

Der Ansatz des vielbeachteten Tanztheater-Regisseurs Joachim Schloemer ist so ambitioniert wie minimalistisch. Als Bühnenbild reicht der gähnend leere schwarze Bühnenraum mit der Technik und Anflügen von Mobiliar oder aktlang auch die Rampe vor einem staketenartigen Vorhang. Dort stellt sich unterm live hochprojizierten, milchig verfließenden Orchestervorspiel-Video die Hand voll Akteure ein, um aus stummer Konfiguration zur tristanesken Versuchsanordnung in Probebühnenatmosphäre zu schreiten.

Man gewahrt Alltags-Menschen, sehr norddeutsch und erdig-zugeknöpft, immer nur das - zuweilen rätselhaft - Nötigste fühlen und tun. Rechts harren der liebestrutzige Sturkopf Tristan und sein drahtig-aufgeräumter Kumpel Kurwenal Apfel essend der Zurüstungen von Rache-Maid Isolde. Da wird nun kein Todes- zum Liebestrank vertauscht, sondern Blutsschwester Brangäne zur Pulsader gelassen: Blut ist ja ein ganz besonderer Saft und ambivalent wie wenig sonst. Das Ergebnis im "Nacht der Liebe"-Duett ist Kuschelstarre in einem grauen Wollumhang, bevor der wundfiebernde Tristan einem Spind-Video und einem Paar Gummistiefel nachhängt.

So sind sie, diese Menschen vom Schlage Scholle und Blutsbande, wenn sie in ihrem karg bemessenen Gefühlshaushalt die Liebeslust zum Tode ereilt. Über die Außenwelt lässt sich Schloemer umso drastischer, aber musikalisch ungedeckt aus: Erst wird zu Markes endloser Klage-Arie, dass ihn der Freund gehörnt hat, der Denunziant Melot (Oliver Zwarg) detailwütigst als rattenfieser Psychopath vorgeführt. Später macht sich der gar nicht so "gute König" rabiat Brangäne zu seiner Ersatz-Isolde. Derweil singt Isolde ihren "Liebestod" abgemeldet einsam vor sich hin, die Überlebenden haben ihr den Rücken zugekehrt, und auch die Toten stehen auf und gehen ab. Daneben gedacht geht das alles nicht, aber zwischen Erdung und Aderlass auch nicht restlos auf. Eine gekonnte Annäherung, kein ganz großer Wurf, wie Schloemers Stuttgarter "Rheingold" einer war.
Freilich sind Überschwang und Brisanz auch GMD Shao-Chia Lüs Sache weniger; eher rollt er mit dem bestechend klangschönen Staatsopernorchester einen weich fließenden Wagner-Teppich aus. Gesungen wird durchweg unangefochten und hochrangig: Neben der reellen, mezzoleuchtenden Isolde von Barbara Schneider-Hofstetter prunkt Veronika Waldners Brangäne mit herb-leidenschaftlichem Surplus.

Louis Gentiles füllig-warmer Tristan-Tenor überzeugte je länger, je intensiver. Hauseigene Stimmpracht bieten Xiaoliang Li als König Marke und Shigeo Ishino, dessen ebenso markanter wie balladesk agierender Bariton einen grandiosen Kurwenal abgibt. Musiktheatralisch unlohnend ist dieser "Tristan" ganz gewiss nicht.

Michael Beughold