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Frankfurter Rundschau, 23 October 1998

Jenseits der Strandidylle
Joachim Schloemers famoses Ballett "may day"

Warum nicht in die Ferne schweifen, das Gute liegt nicht nah. Zumindest für Joachim Schloemer und sein Ensemble. Sie lieben es, zu reisen. Vor allem, wenn Stoff für ein neues Stück gefragt ist. Für Hochland oder der Nachhall der Steine reisten Schloemer & Co. nach Schottland, für das Lissabon-Projekt nach in Portugal, jetzt waren sie am Atlantik- Strand. "Ein Wetterstück" hatten sie angekündigt. Zurückgekommen sind sie mit der spannenden Choreographie may day.
Das kann sowohl Notruf wie auch Maitag bedeuten. Zwischen solchen Extremen bewegt sich Schloemers Tanz, zwischen Tragik und Komik, Idylle und Katastrophe, Bodenständigkeit und Poesie. Wie immer legt er Fährten, um sie unverhofft und kunstvoll wieder zu verwischen. Ein Meister des Zeigens und Verhüllens. Wo wir in may day mit ihm gestrandet sind, wissen wir bis zuletzt nicht.
Der Bühnenboden ist mit Sand bedeckt, der Raum wird durch riesige Wände begrenzt, die von einem zerstörten Schiff, einem leeren Pool oder von einem Strandbunker stammen könnten. Hoch oben auf der Mauer spielen zwei ältere Herren gemütlich Karten, unten im Sand ringt eine Horde Menschen mit sich und ihrer Not. Während sich die merkwürdige Schar zitternd in Decken hüllt, die nasse Kälte aus den Poren schüttelt, als wäre sie soeben vom Meer ausgespuckt worden, schreitet eine nackte Frau wie eine Meereskönigin über den Sand. Ihre Füße gleiten grazil durch die feinen Körner, die Beine heben sich elegant, die Arme sind ausgestreckt wie Balancierstangen, die Schritte sachte, als konzentrierte sich die Frau zentimeterweise auf ihr Gleichgewicht.
Das Gleichgewicht nicht verlieren, das heißt in may day: überleben. Die Kälte macht die Bewegungen kraftlos eckig. Wenn einer schreit, die Sonne sei da, stieben alle wie junge Hunde durch den Sand. Sagt einer, er sehe ein Schiff, starren alle ins Leere. Je länger das Stück dauert, desto weißer werden die Wangen und Lippen, desto hohler die Augen, desto dunkler wird der Blick. Schließlich fühlen sich die Männer und Frauen wie Muscheln, zu Meerestieren transformiert. Filmbilder riesiger Wellen brausen über den Bühnenhintergrund. Die winzigen Menschen sind zerbrechlich, die Kraft des Wassers ist knallhart. Solche Bilder, die ein wenig an Pina Bausch erinnern, haben enorme Wirkung, geben may day Magie.
Wenn Schloemers Tänzerinnen und Tänzer in einer Linie synchron skurrile Posen ironisieren, erinnert das ebenfalls an Bausch, die Schloemers Lehrerin war. Doch zeigt der junge berühmte Choreograph ganz klar seine eigene Handschrift. Meisterhaft versteht er es, szenische Brechungen als irre Stimmungswechsel einer Extremsituation zu zeigen. Im abgründigen Ernst entdeckt er leise Komik und Poesie. Zum Schluß sitzt ein Paar vorne am Bühnenrand und dreht wie verzaubert eine Glaskugel im Licht, welche die Bühne nochmals mit Farben und Formen überschwemmt. Als wäre alles Sichtbare nur ein Lichtspiel, ein Traum, ein verschwindendes Nichts.
Mit may day hat Joachim Schloemer zum ersten Mal uneingeschränkten Jubel vom Basler Premierenpublikum erhalten. Erstaunlich ist das nicht. Denn may day gehört nicht nur choreographisch zu den gelungensten Stücken Schloemers. Er hat auch eine ganz besondere musikalische Begleitung dazu ausgesucht: Auf der Bühne spielt live "Kol Simcha", ein Klezmer-Quintett, welches das Publikum mit melancholischen Melodien und quirligen Jazzimprovisationen vom ersten bis zum letzten Ton mitreißt.
Gleichwohl überrascht der Erfolg von may day. Viele der Tänzer sind neu und doch bereits hervorragend aufeinander eingespielt. Schloemer und das Basler Theater können den Erfolg gebrauchen, denn vor allem beim Tanz sind in der vergangenen Saison die Zuschauerzahlen erschreckend gesunken.
Auch sonst hat der Schweizer Tanz schon bessere Zeiten erlebt: Richard Wherlock, der frischen Wind nach Luzern gebracht hatte, zieht bereits nach drei Spielzeiten nach Berlin. Martin Schläpfer, der in Bern beim Publikum für Verjüngung sorgte, fühlte sich im Stadttheater so jämmerlich unterstützt, daß er nun nach Mainz geht. Bleibt also die Hochburg des neoklassischen Balletts, das Opernhaus Zürich mit Heinz Spoerli. Doch der ist leider nicht immer so inspiriert wie berühmt.

Eva Bucher