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Berliner Zeitung, 15 October 1998

Tänzerische Lust, bis die Sinne kapitulieren
Joachim Schloemers Triumph mit "may day" am Basler Stadttheater

In "Masurca fogo", ihrem letzten Meisterstück, blickte Pina Bausch vom Land aufs Meer und zeigte eine Gesellschaft von Menschen, die dort, wo das endlose Wasser beginnt, zur Harmonie mit sich und der Welt findet. In "may day", seinem ersten großen Erfolg beim Basler Premierenpublikum, kehrt Joachim Schloemer diesen Blick um: Eine Gruppe Schiffbrüchiger landet an einem fremden Ufer, und weil hohe Kaimauern sie am Weiterziehen hindert (Bühne, großartig: Frank Leimbach), muß sie sich auf diesem Flecken Strand wohl oder übel zurechtfinden.
Was geschieht, wenn eine Zufalls- zur Schicksalsgemeinschaft wird? Wie wirkt das durchlebte Trauma des Schiffbruchs nach und welche gruppendynamischen Prozesse kommen in Gang, wenn es gilt, das gerettete nackte Leben neu zu ordnen? Joachim Schloemer stellte sich für sein jüngstes Tanzstück ein eher eng begrenztes Thema und wählte dafür die populäre, zeitgenössische Klezmer-Musik der Basler Gruppe Kol Simcha, die live auf der Bühne des Basler Stadttheaters spielt.
Beides fördert die "Lesbarkeit" der Inszenierung und bringt sie gleichzeitig in eine Schieflage: Der Plot scheint im ersten, gut einstündigen Teil eher als Schauspiel- denn als Tanzplot geeignet und schmeckt in melodramatischen Momenten sogar sehr nach Hollywood dann etwa, wenn ein in der Ferne vorbeifahrendes Schiff die Gruppe teilt: in die Mehrheit, die gerettet werden will, und einen Einzelnen, der die anderen davon zu überzeugen sucht, daß da draußen gar kein Schiff ist. Wie jene Szene, in der einer der Gestrandeten in religiösem Eifer sein Seelenheil sucht, wirkt das dann auch in der Darstellung eher vom Schauspiel als vom Tanz her gedacht, während in den Duetten bestimmte Inhalte konsequent in tänzerische Formen übersetzt werden: so wenn beispielsweise ein Tänzer einen anderen von der Flucht über die Kaimauer hinweg abhält und ihn im Tanz umarmend, umkreisend, tröstend zum Bleiben bewegt.
Immer wieder aber kontrastiert Schloemer die konkrete Erzählung durch Theatermittel mit reinen Tanzsequenzen für das ganze, 13köpfige Ensemble, geradezu provoziert von Kol Simchas melodie- und tanzseligen Klezmer-Nummern, die eine eigentümlich freudetrunkene Melancholie verströmen. Vor der Pause ein Mittel unter anderen (zu denen auch Filmeinblendungen gehören), ist danach der Tanz das einzige, das Schloemer, vierzig Minuten lang, noch einsetzt. Und der Tanz ist es, der diesen Basler Abend zu einem großen Abend macht.
In Form einer Hochzeit gibt sich die Gruppe Gestrandeter eine gesellschaftliche Ordnung. Das kommt, weil es im ersten Teil nicht vorbereitet wurde, unverhofft, doch als ein eigenes Stück, das übrigens sehr an Strawinskys/Nijinskas "Les Noces" erinnert, ist es eine Wucht: In blockartigen Formationen tanzen Männer und Frauen separat wie rasend durch den Sand (bzw. Kork) und bringen aus ihrer Mitte das zu verheiratende Paar (phantastisch wie die gesamte Kompanie: Graham Smith, Sónia Rocha) hervor. Das ist, getragen und angespornt von der Musik, mit großem Atem choreographiert: Tempo- und formenreich, mit raschen Wechseln zwischen Ensemble- und Paarkonstellationen und einer unerhörten Lust, die Tänzer sich immer wieder gegenseitig anspringen und auffangen und umfangen und in den Kork-Sand werfen zu lassen, daß das Auge kaum nachkommt und die Sinne schließlich überwältigt kapitulieren. Diese Hochzeitschoreographie gehört zum besten, was man derzeit auf Tanztheaterbühnen weit und breit sehen kann.

Horst Vollmer