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Neue Zürcher Zeitung, 23. November 2002

Tanz der Bilder in die Nacht

"Ein schrecklich kluges Kind" nannte Norbert Beilharz den Choreographen Joachim Schloemer in seinem Porträtfilm "Prinz Hamlets Tänze", den das Schweizer Fernsehen vor zwei Wochen als Reprise in der Rubrik "Klanghotel Tanz" ausstrahlte. Und tatsächlich umgibt den knapp Vierzigjährigen selbst in sehr ernsthaften Gesprächen immer auch etwas Kindliches. Ist es seine Experimentierfreude? Seine Offenheit für neue Möglichkeiten der Darstellung, der musikalischen Interpretation und der tänzerischen Formensprache? Schloemers Inszenierungen tragen trotz ihrer philosophischen Tiefe auch viel Spielerisches in sich, das allerdings auf präzise durchdachten Regeln beruht.
Längst begnügt sich der ehemalige Folkwang-Schüler nicht mehr "nur" mit Tanz, den er gerne durch spartenfremde Elemente erweitert, sondern versucht sich auch in den Domänen des Sprechtheaters und der Oper. Die Wiederholung des vor Jahresfrist erstmals gesendeten Künstlerporträts sollte all jenen, die mit den Arbeiten des früheren Basler Ballettdirektors weniger vertraut sind, die weit schwierigere Auseinandersetzung erleichtern, die sein nun vorliegendes erstes eigenes Filmprojekt, "The Platform", verlangt. Als titelgebende Plattform erscheint hier zunächst einmal die ungarische Puszta, deren weite Fläche das Grundthema vorgibt: die Vereinzelung des Individuums. Isoliert wirken die sechs Tänzerinnen und Tänzer sowie der ihnen zugesellte Schauspieler (Alice Gartenschläger, Ana Sendas de Moura Pereira, Rodolfo Seas-Araya, Maria Pires, Ravil Galimov, Hans-Werner Klohe und Edmund Telgenkämper), die da im Laufschritt die geometrischen Linien des Sichtbaren abmessen. Einsame Spuren ziehen sie über die Diagonale, die Seitenränder, die Mittellinien des Bildschirms. Wie ein Messer schneidet der Horizont das Bild in zwei Hälften - hinten und vorne oder oben und unten; Himmel und Hölle (Kamera: Emil Fischhaber). Schloemer nutzt bewusst die Macht der visuellen Gestaltung durch die Cadrage, den Bildausschnitt, der den Blick in starre Bahnen zwingt. Stellen anfangs die rennenden Figuren die einzige Bewegung (doch nur scheinbar das einzig Tänzerische) dar, übernimmt die Kamera ihren Fluss, sobald die Protagonisten im Steppengras verharren: Nicht nur die Darsteller folgen einer Choreographie, auch Schloemers Filmbilder tanzen einen Tanz vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht. Unter dem hellen Himmel der Ebene, vor einer gelb gestrichenen Betonwand und in einer graugrün-grässlichen Turnhalle begegnen sich die Menschen - oft ohne sich zu treffen. (Vergebliche) Annäherung, Beziehungen, Fremdheit und Erinnerung sind nur einige Stichworte, nach denen sie sich zu bewegen scheinen. Doch ihr mimischer Spielraum ist minim. In seinem immer weiter getriebenen Versuch, Innerstes tänzerisch zu veräussern, ist Joachim Schloemer beim Formalen angelangt. Blitzte nicht immer wieder der Schalk aus seiner Inszenierung hervor, das Publikum müsste vor dieser Reduktion auf das fast nicht mehr Nachvollziehbare kapitulieren. Abwechslung macht Schloemers introvertierte Körpersprache erträglich: Die Handlungsorte unterteilen den eindrücklichen Bilderreigen ebenso wie die Wechsel von Grossaufnahmen und Totalen, Weite und Nähe, die assoziativen Wortfetzen des Schauspielers, die immer wieder überraschende Musik (von Zigeunerklängen über Swing bis zu Klavier- und Cellostücken) und natürlich die eingeblendeten Kapitelzahlen 1 bis 4. Akribisch sucht Schloemer nach den Grenzen und Möglichkeiten des Mediums. Der Einmaligkeit, welche jede Aufführung einzigartig macht, setzt er die Schnitttechnik gegenüber. Und: Auf welche Bühne könnte man so einfach mit dem Motorrad fahren oder gar einen Helikopter anfliegen lassen? Welches Publikum bliebe still sitzen, wenn sich am Schluss die Nacht über die Puszta senkt und im Dunkel nur noch die Geräusche der Natur zu vernehmen sind - ein ganze Minute lang. Schloemers Filmerstling ist alles andere als leicht konsumierbare Fernsehkost. Wer sich aber zu später Stunde auf seine Bilderchoreographie einlässt, schwebt mit inspirierenden Eindrücken ins Traumland.