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Südwest Presse, 28. Februar 1992

Der ganz normale Wahnsinn
Joachim Schloemers neue Choreographie "Schwarzwälderkirsch" im Podium

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Sein knapp eine Stunde dauerndes Tanzstück dürfte eigentlich auch konservative Ballett-Ästheten nicht kalt lassen. Schloemers Bewegungs-Repertoire ist nur schwer einzuordnen. Er will es wahrscheinlich auch gar nicht. Entscheidend ist aber, daß es ihm in "Schwarzwälderkirsch" gelungen ist, mit seiner irgendwo zwischen Breakdance und Ausdruckstanz angesiedelten, auf jede Art von Mimik verzichtenden Tanzsprache ein Höchstmaß an emotionaler Intensität zu erzeugen. Mag Liebhabern traditioneller Bewegungsharmonie Schloemers Stil zu "unästhetisch" sein, zu eckig, abrupt und heftig, zu banal, hektisch oder zu symbolisch: In "Schwarzwälderkirsch" dient er einleuchtend dem Ziel, im Kopf und im Bauch Reaktionen zu provozieren. Und es gab wohl wenige unter den Zuschauern, die sich nicht von den gezeigten Bildern berührt fühlten.
Der Titel "Schwarzwälderkirsch" klingt unverbindlich, harmlos, er assoziiert Folklore - und den Verdauungsschnaps. Doch die Idylle trügt. Hinter dem banal-kitschigen Titel verbirgt sich der ganz normale Wahnsinn. Im weiß gekachelten, klinisch sterilen, aus vier Wänden konstruierten Raum, bestückt mit einem Ventilator-Öffnungsloch, einer Schwarzwälder Kirschtorte hinter Gittern, einem dem ländlichen Herrgottswinkel nachempfundenen Kreuz und dem auf einer Drehscheibe postierten Flügel (Bühnenbild: Frank Leimbach) beginnt alles relativ harmlos.
Dreizehn Tänzerinnen und Tänzer verharren minutenlang bewegungslos zu den schweren und schrägen Akkordschlägen der Musik von John Gage, von Markus Romes effektvoll in Szene gesetzt. Dann jedoch beginnt ein sich bis zu trunkener Ekstase steigerndes Ritual, das viele der gängigen familiären und menschlichen Verhaltensweisen zitiert, parodiert und pervertiert. Eigentlich sind alle Akteure verhaltensgestört, autistisch: Sie wackeln ununterbrochen mit dem Kopf, verkriechen sich mit dem Teddybär in einer der gekachelten Ecken, schrubben hektisch die Treppenstufen, gebärden sich exhibitionistisch, blicken verträumt in die Ventilatoröffnung, lehnen teilnahmslos an der Wand oder klettern eine Eisenleiter empor, um wie aus einem Gefängnis sehnsuchtsvoll in die Ferne zu starren.
Gelegentlich erinnert die Szene an den Auftritt der Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade in Peter Weiss' Marat-Theaterstück. Doch so verrückt vieles anmutet (oder auch sein soll): Die gezeigten Verhaltensweisen kommen alle aus dem ganz normalen Alltag. Die Trotz- und Erziehungsmechanismen, die Aggressionen, die Zärtlichkeits- und Eifersuchts-Reaktionen, der Haß und die Liebe, der blindwütige Mord, die Sehnsucht nach Freiheit, die Apathie - allen diesen Gefühlen und Stimmungen versuchen die Akteure unter Anleitung von Joachim Schloemer erfolgreich körperhaften Ausdruck zu geben.
Wenn am Ende mit einem lauten Knall die Klappe mit der Schwarzwälder Kirschtorte gegen das Gitter gedrückt wird und die Tortenreste auf den Tanzboden spritzen, weiß längst jeder Zuschauer, daß dieses Tanzstück kein harmloser Familienspaß war. Und im Keuchen der atemlosen Akteure, das die Stille nach den aufreizenden Klängen der John-Cage-Musik durchbricht, begegnet manchem Zuschauer seine eigene Atemlosigkeit wieder.
Joachim Schloemers Truppe tanzte das anstrengende Tanzstück mit anrührender Intensität und mit gelegentlich artistischem Schwung. Insbesondere waren es Toshiko Oka aus Brüssel, die für die verletzte Su-man Hsu eingesprungen war, und Maria Pires als kleines Mädchen mit Teddybär, die ihre Parts bis an ihre Darstellungsgrenzen ausspielten. Aber auch alle anderen waren exzellent. Wie gesagt, es lohnt sich, ins Podium zu gehen und sich mit dieser Choreographie auseinanderzusetzen.

Olaf Gööck