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Berliner Zeitung, 14. März 1998

Totentanz und Trommelschlag
Joachim Schloemers "Parzival" im Hebbel-Theater ist ein archaischer Bilderbogen

Das Tamburin schlägt, der Mond hat ein leises Trommelfell. Eine junge Frau öffnet den Mund, das Lied kommt aus dem Mittelalter. Parzival wird geboren. Zwei Männer halten Herzeloyde an den Armen, sie stößt einen Schrei aus. Der große weiße Körper, der sich an ihre Hüften geklammert hat, rollt auf den Boden. Blut strömt von ihrer Schürze die Beine herab auf den Rücken des Jungen. Sie wäscht und küßt ihn. Einsam in einem Zauberwald zieht sie ihn auf: Die Darsteller der Wildnis tragen sackleinerne Gewänder, Reisigzweige und weiße Federbüschel ragen aus ihren Ärmeln. Sie sprechen mit den Stimmen der Vögel, mit den Stämmen der Bäume, mit den Farben der Dämmerung. Parzival lauscht und schmiegt sich an sie. Da ziehen drei Ritter mit glänzenden und klirrenden Schildern an ihm vorüber. Und Parzival ist so beeindruckt, daß er die Mutter verlassen und als Ritter in die Welt hinausziehen will. Die Mutter stirbt an gebrochenem Herzen. Die erste Frau, die ihm begegnet, mißbraucht er. Er krümmt sich auf einem Steinhaufen und leckt die rauhen Oberflächen, sie liegt am vorderen Bühnenrand. Man sieht den roten Schopf, die Silhouette der gespreizten Beine, die an eine Möwe im irren Flug erinnert. Die zweite Frau, die ihm begegnet, tanzt mit einer Leiche, mit einem einzigen Satz: "Wem nie durch Liebe Leid geschah, dem geschah auch Lieb durch Liebe nie." Durch dieses Geschehen geht ein Herr im grauen Anzug, der Vorhang senkt sich, die Gelehrsamkeit tritt auf und hält einen Vortrag auf Mittelhochdeutsch.
So reihen sich die kraftvollen Bilder in der Inszenierung von Joachim Schloemer, die im Hebbel-Theater zu sehen ist. Schauspieler des Maxim Gorki Theaters, eine Tänzerin, eine Sängerin, ein Trommler und ein Mediävistikprofessor haben sich zusammengetan, um den "Parzival" neu zu deuten. Die Inszenierung wendet sich gegen Richard Wagners romantische Aneignung der Sage. Sie geht zurück auf das Versepos von Wolfram von Eschenbach, ist aber dennoch eigenständige Bühnenschöpfung.
Man merkt, daß Schloemer eigentlich Choreograph ist und zum ersten Mal mit Sprache arbeitet. Die stark verknappten Texte sind Musik und Bewegungspartitur. Sie entführen in einen fremden Raum, in eine fremde Zeit, in der das Mittelalter Projektionsfläche der Gegenwart ist. Es gibt keine Dramaturgie, in der eine Szene die andere konsequent aus sich hervortreibt. Es gibt nur Stationen eines Weges, mythische Situation und grausame Initiation.
Das einfache Bühnenbild wird durch die Phantasie der Schauspieler verwandelt, durch seltsame Requisiten, durch den Klang mittelalterlicher Instrumente. Blanke Schwerter und blaue Fittiche, Langhalslauten und Windspiele aus Metall sind märchenhafte Dinge, die die Zuschauer mit der blutrünstigen Wahrheit des Märchens vertraut machen sollen. Die weißgeschminkten Gesichter, die Gewänder mit den endlosen Schleppen betonen die Archaik der Figuren. Sie haben nichts von dem, was man aus bürgerlichen Trauerspielen gewohnt ist. So fühlt man sich verstört und verwirrt, betört und bedrängt. Und das ist die größte Leistung der Inszenierung.
Für Schloemer ist Parzival kein strahlender Held, sondern ein unerfahrener Junge, der eine Untat nach der anderen begeht. Er verläßt seine Mutter, vergewaltigt Jeschute, schlägt seinen Verwandten Ither tot, um dessen Rüstung zu stehlen. Er verläßt Conduireamour, die ihn liebt, nach der Hochzeit, um Abenteuer zu suchen, und vergißt, dem kranken Gralskönig die erlösende Frage zu stellen. Mit den Jahren aber wächst die Einsicht Parzivals in seine Schuld. Er bemüht sich um die Erkenntnis seiner selbst, seiner Herkunft und seiner Bestimmung. Am Ende steht Parzival zwischen den Figuren seiner Vergangenheit und stellt dem Gralskönig die Frage: "Oheim, wie wirret Dir?" Mit diesem einfachen Ausdruck der Teilnahme erlöst er Anfortas und wird selbst zum König gekrönt. Doch müde geworden von den vielen Reisen, kann er sich darüber nicht mehr freuen und schließt mit einem leisen Seufzer: "Ich will zu meiner Frau."
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Eva Corino