Foto

Berliner Zeitung, 2. Februar 1998

Eine Ahnung ­ aber von was?
Wunderbarer Auftakt: Schloemers "Lissabon-Projekt" eröffnet den Tanz-Winter im Hebbel-Theater

Eigentlich sollte es auch eine kritische Auseinandersetzung werden, aber dann war die Stadt einfach zu schön. Lissabon, sagt der Choreograph Joachim Schloemer, erscheine ihm wie ein unberührtes Schloß, eine unberührte Festung. Man fände keine Einschußlöcher oder andere Spuren vergangener Kriege. Nur Naturgewalten konnten der Stadt etwas anhaben.
Die Zeit ist merkwürdig vorbeigestrichen, und doch ist die Vergangenheit so präsent in Lissabon wie in keiner anderen europäischen Metropole. Im Volksmund, sagt Schloemer, heißt der Platz, an dem bis zum Erdbeben von 1755 das Schloß König Manuels I. stand, bis heute Schloßplatz. Der Tod, so Schloemer, wird in Lissabon nicht so ernst genommen, weil dort das Vergangene nicht zerstört wird. Es existiert verfallend weiter.
Und läßt es geschehen
Unter dem etwas spröden Arbeitstitel "Lissabon-Projekt" hat sich Schloemer mit seiner Baseler Kompanie, seinem Bühnenbildner Frank Leimbach und den Komponisten Michael von Hintzenstern und Hans Tutschku auf die Spuren dieses vorbeistreichend Ahnungsvollen gesetzt, diesem freundlichen Nicht-ganz-auf-der-Welt-sein, das die Stadt wie die Menschen beherrscht. Irgendwann einmal steht jeder der fünfzehn Tänzerinnen und Tänzer allein auf der Bühne, springt, dreht sich, hebt die Arme. Aber dann gibt es einen Kurzschluß, und der Strom fällt aus, oder die Musik ist zu Ende oder man stolpert oder man weiß einfach nicht: wie tanzen? Etwas Machtvolles durchströmt den Körper, eine Ahnung von etwas ­ aber von was? Hilflos steht man da, streckt weit die Arme von sich und läßt es geschehen.
Im Hintergrund fluten derweil in synchronen Bewegungen die Tänzer vorbei, aus den Boxen braust und rauscht es dumpf. Und dann ertönt der nächste Fado und ein schüchtern-verliebtes Paar legt ein Tänzchen aufs Parkett. Noch die ungewöhnlichsten Dinge geschehen mit der allergrößten Beiläufigkeit. Ja, ja, scheinen die Menschen kurz irritiert zu denken, ohne daß die Irritation wirklich durchdringen würde. Deswegen, so scheint Schloemer zu zeigen, darf das Ungewöhnliche, das Wunderbare geschehen.
Es gäbe großartige Ensembletänze, aber es mangele an Dramaturgie, hieß es nach der Uraufführung des "Lissabon-Projekts" vor zwei Wochen in Basel. Nun, zur Eröffnung des "Tanz-Winters" im Hebbel-Theater, hat der Choreograph seine Lissabon-Impressionen noch einmal bearbeitet. Er verstehe dies als eine zweite Premiere, so Schloemer. Es wurde gekürzt und einiges umgestellt. Der Ablauf mag nun zwingender erscheinen, das Stück sich zum Ende hin verdichten ­ eine Dramaturgie aber gibt es immer noch nicht.
Eine Dramaturgie kann es nicht geben. Schloemer ist den Dichterworten Fernando Pessoas gefolgt, die er auf der ersten Seite des Programmheftes hat abdrucken lassen, und die das Lissabonner Lebensgefühl auf den Punkt bringen: "Ich bin nichts/Ich werde nie etwas sein/Ich kann nicht einmal etwas sein wollen/Abgesehen davon, trage ich in mir alle/Träume der Welt."
Dieses Unbestimmte, dieses Gefühl des Träumens, weniger die Träume selbst, versucht Schloemer auf die Bühne zu bringen. Die Komponisten Tutschku und von Hintzenstern haben ihn dafür viel alte und neue Fado-Musik mitgebracht. Auf knisternd-kratzigen Schellack-Platten. Manchmal wird das Knistern und Kratzen lauter und lauter, verdrängt die Musik und Zwischenräume tun sich auf: Ein bunter Fisch aus Pappmaché auf zwei Beinen schreitet über die Bühne, ein von Bastfäden umhüllter Mann schlägt wild um sich. Die Kostüme scheint Frank Leimbach allesamt in einem Lissabonner Bekleidungsgeschäft aufgetrieben zu haben. In einer Seitengasse, wo braun-lila geringelte Strickkleider und bunte Pullover mit Plastikherzen am Dekolleté in hohen Regalen lagern.
Anders als sein vom schottischen Hochland inspiriertes Reisestück "Der Nachhall der Steine", wo Tradition und Moderne aufeinanderprallen und einen fremd, kalt und hermetisch von der Bühne anstarren, ist das Lissabon-Stück ­ trotz aller Melancholie ­ von bezaubernder Leichtigkeit. Es sei ein romantisches Projekt, sagt Schloemer. Ob finster und kalt oder heiter und harmonisch: Schloemer zeigt sich hier wie dort als Meister des Poetischen. Ein wunderbarer Auftakt für den "Tanz-Winter" im Hebbel-Theater.

Michaela Schlagenwerth