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Wiener Zeitung, 15. September 2008

Mozart demontiert und neu zusammengesetzt
Luzern: Joachim Schloemers "Entführungs"-Experiment ist geglückt

Zu Beginn scheint alles wie gewohnt. Außer, dass Belmonte, Konstanze und Co. ein tanzendes Double zur Seite haben. Doch mit dem Auftreten des Bassa Selim wird klar, dass nicht Mozarts harmlose Türkenoper auf dem Programm steht. Dreh- und Angelpunkt der unter anderem mit dem Festspielhaus St. Pölten koproduzierten Inszenierung ist der Verhaltensforscher Bassa (Marianne Hamre), der auch alle bearbeiteten und zum Teil ergänzten Dialoge spricht und mit den fünf jungen Sängern experimentiert.

In immer neuen Situationen beobachtet er sie in seinem Labor (Bühne: Jens Kilian), wie sie in Unfreiheit und manipuliert körperlich und psychisch reagieren. Einmal lässt er die Männer unter Wasser ausharren, ein anderes Mal fesselt und knebelt er die Paare, lässt ihnen Säcke überstülpen. Choreograph und Regisseur Joachim Schloemer, Artiste étoile des Lucerne Festivals und ab der Saison 2009/10 designierter Intendant des Festspielhauses St. Pölten, stößt mit dem Tanz verschlossene Türen auf, so zum Beispiel in der Martern-Arie, wenn Selim Konstanzes Körper äußersten Schmerzen aussetzt, so dass sich die tanzende Konstanze in Krämpfen auf dem Boden windet.

Singen die beiden Paare am Ende des Quartetts im eigentlichen zweiten Akt ein Hoch auf die Liebe, zerstört Osmin diese Idylle, indem er gleichzeitig Maschinengewehre ausprobiert. Desillusion pur bietet der Schluss. Zwar setzt der Bassa seinen Experimenten ein Ende, entlässt die jungen Menschen in die Freiheit. Diese löst aber nur kurz Ausgelassenheit bei ihnen aus, denn schnell erkennen sie ihren Trugschluss. Der Bassa bleibt die Kette an ihren Beinen.

Schloemer hat auch in die musikalische Substanz eingegriffen, indem er einzelne Arien gegeneinander ausgetauscht hat. Rechtfertigen lässt sich dies, weil der vorgegebene Handlungsverlauf ohnehin gesprengt ist. Schloemer hat den Schritt gewagt, der im Schauspiel längst der Normalfall ist. Dank seiner hohen Musikalität ist der Versuch gelungen, das Risikopotenzial ist aber nicht zu unterschätzen.

Mozart bleibt dabei nicht auf der Strecke. Dafür garantiert das mit Elan begleitende, in Intonation und Artikulation kaum zu übertreffende Freiburger Barockorchester unter Attilio Cremonesi. Er führt die Musiker mit Schwung und Kraft durch die Partitur und sorgt für einen transparenten Klang, der wunderbare authentische Farben verströmt. [...]

Oliver Schneider