Foto

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15 August 2002

Wo Ärzte und Patienten ihre Rollen ständig wechseln
Ein Salzburger Spiel über Schmerzschwellen: Joachim Schloemers Tanztheater "The Day I Go To the Body" macht den Körper zum zentralen Thema

[...]
In drei bruchlos ineinander übergehenden Abschnitten versucht "The Day I go to the Body" eine Reise ins Innere des Körpers, um seinen Gesetzen auf die Spur zu kommen. Drei Tänzerinnen, vier Tänzer und zwei Schauspieler verausgaben sich gut fünfundachtzig Minuten, um Fähigkeiten und Grenzen, Echtheit und Verstellungskunst, Manipulierbarkeit und Resistenz ihrer wie der fremden Körper auszuloten. Immer wieder eingeschobene Textpassagen aus Werken von Newton, Wittgenstein und Artaud zitieren die physikalischen Gesetze der Bewegung, problematisieren das Verstehen des Fremdpsychischen oder schildern die Gedankengänge eines Mannes kurz vor seinem Tod. [...]
"Wie definierte er eigentlich den Körper" sinniert ein Schauspieler, bevor drei Tänzer am Boden einen zuckenden "Spasm Dance" initiieren, dem sich nach und nach alle weiteren Akteure in sich windenden und ruckartig aufbäumenden Bewegungen anschließen. Eine Frau kommandiert die Sequenz dreier Männer, indem sie einen roten Holzstab immer wieder laut knallend auf die weiße Fläche schlägt. Später dienen vier solcher Stäbe den Männern zum Vermessen und Verbiegen der Bewegungen einer Frau. Sie zwingen sie mit Gewalt in ihr hölzernes Maß, während die nächste Versuchsperson rebelliert und umgekehrt versucht, mit ihrem Körper das Maß vorzugeben. Ein Tänzer schließlich entwindet sich der drohenden Geometrisierung durch äußerste Geschmeidigkeit: Er taucht, robbt, schlängelt sich oder schlägt ein Rad. Der Abschnitt "Painspirals" zeigt vier durch Schmerz verbundene Paare auf dem Examiniertisch, die von einem abseits stehenden Mann beobachtet werden. Eine verdreht und verrenkt jeweils den Körper des anderen bis hin zu einer rohen Tortur, die von entsprechenden Schmerzlauten der Akteure untermalt wird. Ein anderes Mal werden die roten Stöcke zum Prügeln genutzt. Die Laborsituation macht alle gleich mächtig und gleich ohnmächtig, die Rollen wechseln beständig, Opfer und Täter, Mediziner und Patienten werden letztlich so ununterscheidbar, wie es die Schauspieler und die Tänzer des erstmals in dieser Besetzung agierenden Ensembles sind. Der Ort gleicht einer totalen Institution, wie sie der Soziologe Erving Goffman in seinem Buch "Asyle" so eindringlich beschrieben hat: Autonomie ist hier nicht möglich.
Reste von Individuiertheit birgt jedoch das ungeheuer reiche tänzerische Vokabular Schloemers in seiner präzise formulierten, gänzlich unpathetischen Ausdrucksfülle, die bisweilen einen Roman in einer einzigen Geste zu fassen vermag - wie Schönberg es an der Musik Anton Weberns bewunderte. Die fließenden Bewegungen der drei Frauen in einer Sequenz am Ende des ersten Abschnitts, die der zweite noch einmal leicht variiert aufgreift, ein ekstatisches Frauensolo im zweiten Teil, vor allem aber ein ausgedehntes Männersolo zu Morton Feldmans Klavierstück "Triadic Memories" stellen diese Kunst - und die der ausgezeichneten Tänzer - neuerlich unter Beweis.
[...]

Julia Spinola