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Südkurier, 20 May 2008

Getanzte Melancholie
Großartig: Joachim Schloemers "Tango La Queen" am Theater Freiburg

Es gibt Tangoshows, die allzu gerne das Klischee bedienen von verrauchter Hafenkneipe, schummriger Rotlicht-Atmosphäre, pomadisierten Tanz-Gockeln und leichten Mädchen in Netzstrümpfen, die ihre Körper lasziv verbiegen - und es gibt Joachim Schloemer, den Poeten unter den Choreografen und Regisseuren.
Joachim Schloemer unterläuft und überschreitet vorfabrizierte Meinungen in nie gesehenen Tanzbildern. Im Theater Freiburg verbindet er Tango und Tristesse, Grandezza und Gewaltsamkeit mit schwebeleichter Melancholie. Tango - mehr als ein Tanz. Tango - ein Schicksal, eine Haltung, eine überlebensnotwendige Drehung, um aus der Misere zu kommen.
Vorhang auf? Joachim Schloemer kennt keinen roten Plüsch. Der Zuschauerraum ist hell. Ein trotteliger, angesüffelter Mann, der schon bessere Tage gesehen hat, sprayt "Tango King" an den Eisernen Vorhang. Dieser Mann an der Rampe ist Joachim Schloemer selber; hier tanzt der Chef mit.
Ob dieser leicht schwankende Tango-King seine "Tango Queen" noch im Griff hat? Immerhin: aus dem Off verspricht uns eine Stimme, dass Tango eine "sehr lebendige, sehr gelebte Musik" sei. Und doch: Es dauert einige Zeit, bis wir die ersten Paare im Tangoschritt sehen werden. Dafür berichten zunächst Männer und Frauen auf einem Videofilm, wie sie zum Tango kamen. Ein Gewerkschaftssekretär, ein Krankenpfleger, eine Landschaftsarchitektin, ein Abiturient, eine Sportstudentin...
Neben den zehn Profitänzern vom Freiburg-Heidelberger Tanzensemble "pvc" hat Tanzchef und Kurator Joachim Schloemer zweiundzwanzig Laientänzer in seine Choreographie "Tango La Queen" integriert; Amateure, die seit Jahren vom Tangofieber befallen sind und die hier auf der großen Bühne des Freiburger Theaters unter der Anleitung von Joachim Schloemer mit den Tanzprofis zu einem wunderbaren Ensemble verschmolzen sind. Ihr Thema: das Leben, der Tod und der Tango.
Lange bevor an diesem Abend noch das erste Bandoneon-Seufzen ertönt, redet eine ältere Frau (gespielt von Isabella Bartdorff) vom Tod ihrer Tochter, ihren Schmerz, ihren Ich-Verlust und dass der Tango sie zurückgebracht hat ins Leben. "Das war wie ein Zurückkommen zu mir", sagt sie. Später wird sie singen, wie der Schnee der Zeit ihre Schläfen versilbert hat. Später wird ein Kind sterben, und wir werden ahnen: Das ist das Kind dieser Frau. Furchtbare Ahnung, schleichende Gewissheit: Auch das kann im Schleifen des Tangos mitschwingen.
Zunächst sehen, wir die Mutter in einem engen Guckkastenzimmer (Bühne und Kostüme: Jens Kilian). Hellblaue Tapete, Kinderbettchen, Regal. Ein roter Ball hüpft aus dem offenen Fenster herein, ein Junge kraxelt hinterher in das Zimmer, nimmt den Ball wieder nach draußen. Wieder fliegt der Ball herein, wieder kommt der Junge, ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal. Jetzt kommt Leben in die karge Bude. Eine Frau wickelt ihr Baby, ein Mann fällt vom Stuhl, ein Sportler vollführt einen Kopfstand, ein Einbrecher stiehlt ein Paket, ein Pärchen liebt sich auf dem Bett, Polizisten treten auf.
Eine Wiederkehr des Immergleichen; ein Alptraum, die Mutter, das Kind. Doch dazu ertönt bereits die wunderbare Tangomusik von Thomas Jeker und seinem Quartett. Und wenn auf der Drehbühne dann die Rückseite des Zimmers zu sehen ist, entwickelt sich nicht nur eine lustige Backstage-Comedy, sondern ist in den Tango-Paaren im Dämmer der Straße ahnbar, dass es ein Draußen gibt, heraus aus dem Schmerz.
Grelle Verfremdung und Tango-Sanftheit: Das sind die Pole, die diesen Abend in Spannung halten. Im ersten Teil adaptiert Schloemer präzise den preisgekrönten Animationsfilm "Tango" von Zbigniew Rybczynski. Im zweiten Teil ist scheinbar nur Tango in seinen Variationen angesagt.
Doch der garstige Pinocchio, der mit seiner obszönen Nase zwischen die grazilen Paare stolpert, ist mehr als nur plumpes Gegengewicht: Zum afrikanischen Trommelschlag lädt er ein Kind zum knochenbrechenden Tanz, der Tango schrillt, schreit und grellt. Wenn gegen Ende nochmals die Video-Porträts der Tanzenden zu sehen sind, diesmal verzerrt, tonlos, sind sie atemlose Zeugen eines Verbrechens gewesen.
Die gleichen Bilder mit neuem Inhalt: Das Bedeutungsspringen macht diesen Tango-Abend zum Psycho-Krimi - bis das sanfte Schleifen des letzten, des Trauer-Tanzes verzuckt, nur Trippeln, nur Klacken - und tosender Applaus.

Siegbert Kopp