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Salzburger Nachrichten, 19 August 2002

Sehnsucht und Erinnerung
Mit dem traurigen und lustigen Tanzabend "Senza fine" erfüllte Joachim Schloemer auf der Perner-Insel in Hallein die großen Erwartungen.

Rimini wird jeden Sommer vom Tourismus überrollt, und in der Zeit ist es unvorstellbar, dass da auch ganz normale Menschen leben. So geht es allen Fremdenverkehrsorten, Salzburg eingeschlossen. Ein wahreres Gesicht zeigen sie im Winter, dann, wenn der Rummel der Trostlosigkeit Platz gemacht hat. Joachim Schloemer ging für seine Produktion "Senza fine oder Als Rimini noch schön war", mit der er sich im Vorjahr aus Basel verabschiedet hatte, von einer autobiografischen Erfahrung aus, von einem Aufenthalt während des Winters in Rimini. Eine gestraffte, eindreiviertel Stunden dauernde Fassung zeigt er nun auf der Perner-Insel in Hallein. Rimini sei dazu angetan gewesen, in eine tiefe Depression zu fallen, sagte Schloemer im Zusammenhang mit seinem Projekt. Er transformierte, was er erlebt hatte, in getanzte Bilder.
Der Schauplatz, den Jens Kilian gebaut hat, zeigt einen abgenutzten, aus den fünfziger Jahren stammenden Saal, der wahrscheinlich zu einem Hotel gehört. Hier drehen sich mehr als ein Dutzend Paare, Pensionisten, die unverdrossen auf Fröhlichkeit aus sind und sich von einem Einpeitscher, der gewiss gern Animateur genannt wird, dirigieren lassen. Auf einmal ist dieser abgetakelte Kursalon leer und übrig sind lediglich die zurückgelassenen Schuhe der Tänzer. Einsamkeit und Leere erfüllt den Raum. Er verwandelt sich in ein erdachtes Ambiente, und jetzt ist da Platz für fünf andere Wintergestalten und ihre abstrakten, sperrigen, Bewegungsabläufe, einmal auf der Stelle verharrend, dann den Raum durchmessend, einmal autistisch und dann aufeinander bezogen. Diese Bewegungen kennen den großen körperlichen Gestus ebenso wie das konzentrierte Strecken eines Arms, die Veränderung einer Fingerhaltung. Schloemer ist unerbittlich in der Herausforderung der Aufmerksamkeit des Publikums für diese Art von Bewegungstheater, die nichts mit Tanz im herkömmlichen Sinn, aber auch nichts mit Körperexperiment zu tun hat, sondern der von Schloemer erfundenen spezifischen Sprache folgt.
Aber dann kommt die Auflockerung. Es schneit in Rimini, und es tauchen andere Gestalten auf. Sie dürften zu einem Boxclub gehören oder zu einem Zirkus. Sie treiben in einer bunten Szenenabfolge eine Menge Spaß, fechten Scheinkonflikte aus, zeigen kleine Kunststücke und bewähren sich als Jongleure. Das Ensemble entfaltet dabei bewundernswerte Wendigkeit. Stets wird höchstes professionelles Niveau gewahrt.
Bring your family, dachte sich Schloemer und lässt eine Giraffe auftreten, an der auch schon die Dreijährigen ihre Freude hätten. Aber keine Angst, in die reine Harmlosigkeit artet das Stück schon nicht aus. Wenn im Halbdunkel einer fast tot geschlagen wird, kann man sich daran erinnern, dass der Faschismus in Rimini einen wichtigen Stützpunkt hat.
Schloemer liegt viel daran, eine Atmosphäre der Wehmut, der halblustigen Traurigkeit zu erzeugen. Am Anfang gelingt es ihm mit den ambitionierten Senioren-Tänzern, die am Ende wiederkommen, sehr gut. Großes Vorbild für Schloemer ist Pier Paolo Pasolini, der in dem Film "Amarcord" aus dem Jahr 1974 Kindheitserinnerungen verarbeitete. Unvergessen sind die Bilder von dem Pfau, der durch das Schneegestöber fliegt und dem Kind, dem auf dem Schulweg die Kühe im Nebel wie Monster erscheinen.
An die Intensität dieser Bilder ist kaum heranzukommen, aber Schloemer gelingt es mit seinen Mitteln durchaus, starke Eindrücke zu vermitteln, die aus einer seltsamen Mischung von Niedergeschlagenheit und fragwürdiger Fröhlichkeit bestehen.
Die Musik haben Max Küng und Robert Hermann zusammengestellt, sie nahmen, was sich an Italo-Schnulzen anbot, wie sie in Filmen vorkommen, mischten aber auch Klassisches drein, wie etwa Vivaldi, und wenn eine Frau vor der riesigen Kulisse eines Schiffes tanzt singt die Callas dazu: eine unmissverständliche Aufforderung, sich rückhaltlos der Melancholie hinzugeben.
Mag es Schloemer auch nicht durchgehend gelungen sein vorzuführen, wie zwei Extreme, seine strenge Tanzsprache und clownesker Humor, einander durchdringen können, so hat er doch eine Abfolge starker Bilder geschaffen.

Werner Thuswaldner