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Berner Zeitung, 27 January 2018

Das wilde Europa

Das wilde Europa beginnt draussen vor der Stadt.

An der Ostermundigenstrasse. Der Andrang ist gross. A, B, oder C? Der Buchstabe auf dem Ticket bestimmt, mit welcher Publikumsgruppe man diese Theaternacht verbringt; bis auf das Finale wird jedes Fragment dieses Musiktheater-Loopings dreimal gespielt, bis alle alles gesehen haben. Ein anregender Spass. Das dramaturgische Konzept geht auf: Der dreieinhalbstündige Abend (Suppe und Glühwein für alle inklusive) ist lang, Längen aber gibt es keine. Schon schreitet der Guide voran. Gruppe B schlendert ihm nach. Es geht hinüber zum Parkplatz vor dem farbig erleuchteten Turm der Hochschule der Künste. Hier, wo Kunst und Alltag sich an diesem Abend verzahnen. Da, ein parkiertes Auto. Sein Unterbauch leuchtet neonblau, durch die geschlossenen Fenster dringen Rhythmus und dumpfer Lärm. Der Wagen blendet mit den Scheinwerfern, dass es aussieht, als reisse das Auto seine Pupillen auf. Die Kiste lebt doch! Unter dem Blech schnaubt ein wütender Dämon. Man spürt, wie sich seine Erregung steigert, und erschrickt, als der Motor aggressiv aufheult und der Auspuff raucht und röchelt. Was, wenn das Ding jetzt explodiert? Die Gummiwischer reiben sich an den trockenen Fensterscheiben wund.

Die Kiste beginnt zu hecheln. Ein orgiastisches Accelerando, bis die Glassplitter spritzen – zum Glück nur akustisch. «Bitte weiter», sagt der Guide zur Gruppe B und irrlichtert in seiner mit Lämpchen besetzten Weste in die Dunkelheit. Die Gruppe folgt ihm auf den Fersen; sie wirkt aufgekratzt.

In Korridor und Tiefgarage
Plötzlich scheint da draussen alles irgendwie Bühne. Überall Ideen, Kreation, wo man hinhört und blickt. Echt oder gespielt? Die Grenzen sind fliessend. In farbig erleuchteten Fenstern sieht man Paare, die sich in den Endlosschlaufen ihres Alltags verheddern. Trostlos die zwei Trottoirschwalben, die Fritten und Nuggets mampfen und sich mit vollem Mund durch die Melancholie einer freierlosen Nacht trällern. Es opert in jedem Winkel. Durch die hallende Tiefgarage gleitet eine Geisterdame und redet sich die blutleeren Lippen fransig. Derweil ein Hüne im Korridor an einem hohen Gips-Fels hängt und starke Töne ausschickt. Als ob er sich an ihnen halten könnte, um nicht abzustürzen.

Spielarten der Liebe
Sechs musikalisch-szenische Zwischenstationen passiert der Zuschauer, bevor er in der Shedhalle, dem Hörsaal, dem Auditorium und im grossen Theatersaal der Hochschule der Künste längere Performances erlebt (Konzept und Musik: Lennart Dohms). Die klug gebauten Szenen sind in Zusammenarbeit mit den Studierenden entstanden. Mit dem Titel «L’Europe sauvage» erinnert Regisseur Joachim Schlömer an Jean-Philippe Rameaus Ballettoper «Les Indes galantes».
Sie bildet die Quelle, an der sich «L’Europe sauvage» entzündet. Rameau, der Barockkomponist, war ein Vorreiter seiner Zeit. Er machte sich Gedanken über die Spielarten der Liebe in «exotischen» Ländern. Schlömer übersetzt den Stoff ins heutige Europa, denkt ihn weiter. In starken Spielszenen werden Fragen nach Macht, Liebe, Entfremdung gestellt und Bilder für die Sehnsucht nach Freiheit gefunden.
Mit Hingabe und Können legen sich die Darstellenden ins Zeug und verwandeln die Elemente, aus denen Bühnenkunst schöpft, in emotionsgeladene Klänge und Bilder. An deren Ausdruck und Wirkung bleibt man lange hängen. «L’Europe sauvage» begeistert als eindrückliche Talentschau, die Musikgeschichte implodieren lässt. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass überlebt, wer sich an die Kunst hält. Und wer sie wie diese jungen Talente in sich trägt: der kann fliegen.