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Neue Luzerner Zeitung, 31 January 2002

Fühl-Räume der Klage
Der Choreograf Joachim Schloemer kreiert mit zwei Sängerinnen, zwei Tänzerinnen und einem Tänzer "les larmes du ciel": ein Stück der Klage, das zeitlose Räume des Schmerzes auslotet und Tanz- und Musiktheater zugleich ist.

Joachim Schloemer, in "les larmes du ciel" arbeiten Sie mit Lamenti und Instrumentalstücken des Barocks - und wollen gleichzeitig das Zeitlose von Schmerz, Klage verkörpern. Was Interessiert Sie an dieser Thematik - wie kam es zur Idee zu diesem Stück?
Mich hat die Frage interessiert, welche innere Dynamik es ist, die einen dazu führt, Klage, Schmerz zu Musik oder zu Texten, zu Gesten zu verarbeiten. Wann wird Schmerz zu einem Seelenzustand, der nach Ausdruck drängt, wann führt er zur Erstartung? Welche innere Dynamik der Klage führt zu einem harmonischen Ausdruck, wann wird er zur disparaten, zerrissenen Geste? Schmerz, Klage sind für mich Zustände, die den Menschen transparent machen. Was der Mensch im Moment des grössten Schmerzes offen legt - die Wut, das Flehen, das Wünschen und Verwünschen, die Verzweiflung -, ist etwas, das mich sehr berührt. Gleichzeitig spiegelt es sehr theatrale Zustände. "les larmes du ciel" gipfelt in der Katharsis - in der absoluten Erschöpfung, wo nur noch ein Durchbruch zu etwas Neuem möglich ist. Was mich interessiert, ist ausserdem, wie Menschen miteinander umgehen, wenn sie sich im Schmerz begegnen: Wie sie Boshaftigkeiten, Misstrauen oder Vertauen entwickeln.

Wie zeigen Sie das auf der Bühne?
Ich zeige fünf Menschen, die sich treffen und die alle irgendeine Art von Verlust erlitten haben. In ihrem Schmerz lassen sie sich von der Musik führen, ohne diese aufdringlich oder plakativ zu verkörpern, Es gibt keine Antwort auf die Klage. Welche Beziehung die vier Frauen zum einzigen Mann auf der Bühne haben, bleibt offen.

Weshalb eine Sammlung verschiedener Kompositionen und weshalb die Kombination von Tanzenden und Singenden?
Zusammen mit dem musikalischen Leiter Anilio Cremonesi habe ich eine Auswahl von Lamenti und Instrumentalstücken, ausgewählt, welche das Spektrum der Gefühle und Stimmungen offen legt. Die Klage wird zur grossen Geste, zu einem Zustand, der sich in der Musik, in der Stimme, in der Bewegung und in der räumlichen Beziehung zwischen den Personen äussert, Ich kann nicht sagen, ob der Abend mehr Tanztheater oder Musiktheater ist, er ist beides.

Wie gingen Sie dabei bei den Proben vor?
Der Vorteil war, dass ich mit den meisten der Beteiligten schon lange zusammenarbeite. Insofern war ihnen die Thematik bekannt; die Proben für ..les !armes du dei. brauchten keine aufwändigen Diskussionen. Ich mache ja keine fröhlichen Hops-Stücke; alle meine Stücke handeln von Tod, Schmerz, von abgründigen Zuständen und exzessiven Emotionen, Der Ablauf des Abends war schnell klar, und er wird stark von der Musik geführt.

Ihr Stil gilt als eigenwillig. In den grossen Theatern sind Sie sowohl im Tanz- wie auch im Musiktheater, sogar im Schauspiel sehr gefragt. Als Tanzchef in Basel aber stiessen Sie beim Publikum immer wieder auf Widerstand. Wie erklären Sie sich das?
Ich habe mir immer wieder den Kopf darüber zerbrochen, weshalb ich in Basel nicht das breite Publikum ansprechen konnte. Es ist für mich nicht einfach, meine Rolle in einem Theaterbetrieb zu finden, ich arbeite subtil, komplex. Ich mag es, von offenen Denkräumen auszugehen, die sich nicht linear entwickeln, sondern sich auf verschiedenen Ebenen verweben. Das spricht eben nicht die grosse Masse an. Ich mag Geschichten, die eigentlich so nicht passiert sein können, die zeitlich und räumlich verschoben sind - Geschichten mit komplexen Realitäten, wie man sie zum Beispiel auch in der Mythologie findet. Ich möchte Geschichten zu Bildern gestalten, die unerwartete Sichtweisen öffnen, eine Art Vexierspiel sind. Meine Sprache ist vielleicht ähnlich wie diejenige der modemen, zeitgenössischen Malerei. Nicht nur das konkret Sichtbare ist zentral, sondern vielmehr der Leer- und Zwischenraum, wo das Sichtbare ansetzt - und Unerwartetes evoziert, eine vielschichtige Eigendynamik von Realitäten entwickelt. Zum Beispiel diejenige von exzessiven Gefühlen. Ein Stück zu kreieren, ist für mich wie ein komplexes Gebäude zu bauen. Es ist ein Prozess. Vielleicht komme ich nie dort an, wo ich eigentlich hinmöchte. Aber für mich ist es der richtige Weg.

Sie sind ein Grenzgänger. Sie verwischen die Grenzen zwischen den Kunstsparten. Wie kam es dazu?
Mich interessiert es, wenn sich Dinge aneinander reiben und sich dabei neue Ebenen öffnen. Für das Musiktheater begann ich mich zu interessieren, weil ich Stimme sehr körperlich erlebe. Auch finde ich die Geschichten aus der Oper interessanter als diejenigen aus der Tanzliteratur. Seit kurzem beginne ich nun auch das Schauspiel zu erforschen. Auch gestalte ich zurzeit einen Film. Seit ich nicht mehr Tanzchef in einem Theaterbetrieb bin, kann ich wieder atmen; als ich das Basler Theater verliess, fiel eine enorme Last von mir. Ich kann nun diejenigen Stücke kreieren, die ich möchte - und ich kann mir die Angebote dafür auswählen. Meine heutige Situation könnte nicht besser sein.

Eva Bucher