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St. Galler Tagblatt, 28 March 2015

Iphigenie im Kasten
Joachim Schlömer interpretiert Goethes «Iphigenie auf Tauris» als Text, der vor einem Druckfehler zittert. Und mixt die Ereignisse auf der Krim mit schlechter Popmusik.

[...] Regisseur Schlömer nähert sich dem antiken Stoff mit Respekt, aber auch forschem Zugriff. Unter den Jamben, so lässt er Orest sagen, höre man Pulsschläge. Daher schiebt Schlömer zwischen das Geschehen sehr einfach gestrickte Schlager [...]
Das vergrössert die Fallhöhe zum - auf anderthalb Stunden gekürzten - hohen Ton des Goethetextes. Der zittere, auch das sagt Orest, vor einem Druckfehler: «Es fürchte(n) die Götter das Menschengeschlecht.» Wer fürchtet also wen?
Zwischen Iphigenie, Orest und Thoas tobt der Kampf der Götter gegen Menschen, des Gesetzes gegen Mitleid, der Tradition gegen Erneuerung. Hier stehen die Monstrositäten der Orestie, der Familie von Orest und Iphigenie, und brutale Gesetze, die ihrer Vollstreckung harren. Und da versucht Iphigenie verzweifelt, ihrem Gefängnis zu entfliehen und doch ihren Lebensretter nicht vor den Kopf zu stossen.
Beeindruckend wie Sabine Waibel Iphigenies Zerrissenheit zeigt, ihr Hoffen, die Heimat wiedersehen zu können, ihr Erschrecken, als der Bruder plötzlich vor ihr steht, ihre Gewissensbisse, als ihr das Gesetz gebietet, ihn als Priesterin zu töten. [...]

Valeria Heintges