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Badische Zeitung, 5 February 2012

Eine Tochter leistet Abbitte
Elfriede Jelineks "Winterreise" am Theater Freiburg

Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek lässt den eigenen Vater den Widergänger von Schuberts Winterreisendem sein. Ihr Stück die "Winterreise" inszeniert Joachim Schloemer in Freiburg sehr überzeugend.

Kein Ton von Schubert. Ein anderes Lied wird gesungen, das Lied, das einen späteren Bundespräsidenten in die Charts brachte. Walter Scheels Stimme kommt gut gelaunt aus einem Kofferradio. "Hoch auf dem gelben Wagen": Zuerst tanzt eine Gruppe Heranwachsender wild um das Gerät herum; später kreist es tönend allein um sich selbst, am Ende stellen die fünf Schauspieler kurz das Lied vor dem Verhauchen pantomimisch dar: Die Musik ist vom Körper aufgesogen – so wie Franz Schuberts Liederzyklus "Winterreise" nach den Gedichten von Wilhelm Müller in Elfriede Jelineks gleichnamigem Text Sprache geworden ist. Deshalb darf – das ist konsequent gedacht – kein Ton von Schubert sein in Joachim Schloemers Inszenierung von Jelineks "Winterreise", die jetzt im Großen Haus des Freiburger Theaters Premiere hatte.

Auch kein atmosphärischer Hinweis. Keine Kälte, kein Schnee, keine Dunkelheit. Schloemers Bühnenbildner Jens Kilian hat ein klinisch weißes Rondell mit einer Rampe entworfen; halb Petrischale, halb Showbühne, wie es die Dramaturgin Jutta Wangemann in ihrem klugen Beitrag zum Programmheft treffend umschreibt. Das hervorragende Schauspielensemble – Nicole Reitzenstein, Stephanie Schönfeld, Gabriel von Berlepsch, Konrad Singer und Martin Weigel – trägt entindividualisierende Anzüge in Anstaltsblau und grobes Schuhwerk. [...]

Joachim Schloemer hat die nachgetragene Liebeserklärung der damals mit Aggression und Abwehr reagierenden Tochter aus dem Text herauspräpariert und dafür seinen gesellschaftspolitischen Resonanzraum mit der Reflexion auf die Verschleppung und Einsperrung von Natascha Kampusch gekappt. Außerdem hat den Regisseur die in den ersten beiden Kapiteln evozierte Frage nach der Zeit interessiert.

[...]

Schloemer gelingt die Rhythmisierung der "Winterreise" aus dem Innern der als Partitur aufgefassten Sprache Jelineks. Hier trifft seine Erfahrung als Tänzer: Bewegung ohne Musik erzeugen zu wollen, auf die Texte einer gelernten Organistin, die Musik auf ihre eigene Weise hervorbringen. Als Hilfsmittel benutzt die Inszenierung ein Metronom, das den Sprechtakt gelegentlich zum Rasen bringt: zu so etwas wie rasendem Stillstand, denn es geht ja nichts voran im Karussell der Zeit, es geht höchstens etwas vorbei. "Mein Vorbei, es kommt nicht wieder, am Vorbei kommt man nicht mehr vorbei. Vorbei ist vorbei. Fragen Sie die Zeit! Sie wird es Ihnen bestätigen": Jelineks Suada versucht, das Immer-schon-vorbei-sein spürbar zu machen – und die Schauspieler rennen sich selbst hinterher.

Dieses allzu Augenfällige der Inszenierung verliert sich zunehmend beim Monolog des Vaters, den die Regie in eindrückliche Szenen fasst: Wenn Stephanie Schönfeld von oben bis unten mit weißer Farbe eingepinselt wird – ein Vorgang der Auslöschung –, wenn Martin Weigel in sich versunken, von außen nicht mehr erreichbar vor dem magisch leuchtenden Radio hockt; wenn das Ensemble mutterliebebedürftig auf die Methusalems zurobbt, während an der Wand die Kids aufdämmern und sich wieder im Ungefähren verlieren. Fremd eingezogen. Fremd ausgezogen. Ein bemerkenswerter Abend. Große Zustimmung.

Bettina Schulte