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Frankfurter Rundschau, 5 October 2005

Frauen im Klanggetümmel
Joachim Schloemer kreiert mit "Passagio / Tre donne" zu Musik von Luciano Berio einen avancierten Theaterabend in Mannheim

Joachim Schloemer ist einer der Exponenten des innovativen deutschen Musik- und Tanztheaters. Bei seinen Kreationen sind es auch die Theaterleute selbst, die von überall kommen und genau hinschauen. Wenn Schloemer jetzt in Mannheim sein Doppelopus zu Musik von Luciano Berio offeriert, so verspricht das auch ein Kult-Ereignis für Insider. Das Gespann Passaggio/Tre Donne, im Schauspielhaus aufgeführt, erwies sich mithin als eine vehemente Einübung in "Künstler-Kunst", als ein schönes, sprödes und sinnliches Fanal wider Konsumtheater.

Bedeutsam schon die Entscheidung für Berio, einen italienischen Avantgardemusiker (gestorben 2003), der mittlerweile allzu sehr im Schatten Luigi Nonos steht. Mit Passaggio, 1963 uraufgeführt an der Mailänder Piccola Scala, schrieb er ein rabiat-anarchistisches Musiktheaterstück, das mit seinen Kruditäten noch heute frisch und vital anmutet. Das liegt nicht zuletzt am eminenten intellektuellen Format des Librettos von Edoardo Sanguineti, das auch Elemente des "wilden" Theaters von Artaud integriert. Die Dynamik der sechsteiligen "Messa in scena" (einer eher schwarzen als heiligen Messe) entsteht vor allem durch das Widerspiel einer einsam auf der Bühne singenden Aktrice und dem im Publikum verteilten Sprechchor, der mit seinem kollektiven Part gleichsam enigmatisch zwischen den Polen Klamauk, Verstörung und akustischer Terrorisierung pendelt. Und die Bühnenfigur macht sich einiges von "Publikumsbeschimpfung" zueigen. Es hat schon was, wenn sie das Stück beendet mit den rauen Worten: "Haut ab. Verpisst euch".

Während Passaggio mehr die ungemütliche Variante der avancierten Sechzigerjahre-Ästhetik herausstellt, appellieren die im selben Jahrzehnt geschriebenen Sequenza-Solostücke an einen damals neuen Typus von Virtuosentum; sie entstanden in Verbindung mit ingeniösen Instrumentalisten, die bis dahin unerhörte Klang- und Geräuschdimensionen erschlossen, aber auch mit der früh verstorbenen Avantgarde-Diseuse Cathy Berberian (Berios damaliger Lebensgefährtin), deren Temperament jede vokale Etüdenhaftigkeit sofort ins Theatralisch-Schaustellerische lenkte. Zu zwei instrumentalen und einer vokalen dieser "Sequenze" erfand Schloemer sein gut halbstündiges Stück Tre Donne. Darsteller sind dabei drei Frauen. Die Solistin aus Passaggio (Deborah LynnCole, dort eine auch körpergewandte Sprecherin und Sängerin) hat nun eine eher marginale Rolle.

Präsenter ist eine mit überwiegend akrobatischer Körperarbeit beschäftigte Tänzerin (Maria Pires) sowie die Interpretin der Sequenza III für Frauenstimme, die vokaltechnisch souveräne und in ihrer mimischen Ausstrahlung somnambule Sarah Maria Sun. Bei aller wunderlichen Instrumental- und Stimm-Exaltation geht es in Tre Donne kontemplativer zu als im vorangegangenen Massenstück. Es kommt sogar zu einer seltsam anmutigen Beziehungs-Poesie, wenn die drei Akteurinnen in der Schlussepisode sich in einer Art Boxring mitten im Parkett zusammenfinden und scheu-interessiert auf einander reagieren. Dabei wird die Vokaläquilibristin von einer ihrer Partnerinnen aus unterschiedlicher Nähe mit der Videokamera gefilmt und auf seitlich aufgestellte Monitoren projiziert Eine triftige dramaturgische Wendung, dass Schloemer das Solipsistische dieser Klangstudien zu einem diskreten Beziehungsgeflecht öffnet. Auch die beteiligten Instrumentalisten (der Pianist Florian Hölscher, der Oboist Jean-Jacques Goumez) bekommen theatralische Qualität.

Schloemer setzt zu diesen friedfertigen solistischen Beziehungsspielen freilich einen harschen, ins Makabre reichenden Kontrapunkt. In einem engen Glaskasten drängt sich der 16-köpfige "Chor der Stummen", dessen hektische Bewegungen (gelegentliche gemeinsame Schreie werden durch die Trennwand nur erstickt vernehmlich) eine Gefängnissituation signalisieren. Man erinnert sich, wenn diese Menschenmenge wie verzweifelt an der Außenwand klebt und ihre Hände nach der unerreichbaren Freiheit ausstreckt, an Beschreibungen aus den Gaskammern der Vernichtungslager. Damit ist auch die inhaltliche Klammer zum Gewaltstück Passaggio evident. Ohne dessen Provokationspotential zu schmälern, unterstrich Schloemer bei der szenischen Vergegenwärtigung, wohl ganz im Sinne Berios und vor allem Sanguinetis, auch das drastisch Witzige, Grellfunkelnde dieser die Theatersituation aufmischenden Ladung von vielsprachigen Sprechakten, multidimensionalen Interrumptionen und geballten Massenklängen. Das auf Anhieb chaotisch anmutende Ereignisgetümmel wurde insbesondere durch Jens Kilians lapidare Bühnenbildkonstruktion mit einer einfarbig dunklen geneigten Spielfläche und einer ins Parkett reichenden Schiene mit Neonröhren klar gegliedert.

Bei Passaggio spielte das Orchester des Nationaltheaters Mannheim klangwuchtig unter der Direktion seines neuen Generalmusikdirektors Frédéric Chaslin, der damit wenige Tage nach seinem Einstand mit Verdis La forza del destino eine weitere anspruchsvolle Aufgabe erfüllte. Als kompetenter Gesangskorpus wirkten Solisten der Schola Heidelberg mit. Der noch größere Sprech- und Bewegungschor absolvierte seinen Part mit hochmotiviertem Gusto. Schloemers wohlgelungene und perspektivenreiche Arbeit ist wohl auch als imponierende Entrée-Visitenkarte der neuen Mannheimer Intendantin Regula Gerber zu quittieren.

Hans-Klaus Jungheinrich